«Wir erwarten keine Gerechtigkeit von der bürgerlichen Rechtssprechung»
Lacher gibt es am Gericht selten. Einige waren gestern im grossen Saal des Bezirksgerichts Winterthur aber doch zu hören, wenn auch eher schadenfreudige. Denn auf Drängen des Verteidigers liess der Richter zusätzliche Zuschauer:innen in den Saal. Deren Anzahl war zuerst auf 15 beschränkt gewesen, draussen besammelt hatten sich aber über 40 Personen.
Er wolle, dass alle Schaulustigen einen Sitzplatz hätten, sagte der Richter mit gequälter Miene. Worauf die bereits anwesenden auf ihrer Bank dicht zusammenrückten und riefen «Hier hat es noch zwei!».
Der ungewöhnlich grosse Andrang kam nicht von ungefähr. Aufgerufen hatte das Kollektiv «Gemeint sind wir alle!», das sich mit dem Angeklagten solidarisierte. Denn dieser war am 1. Mai vor einem Jahr als eine von drei Personen festgenommen worden. Die Polizei hatte damals nach der bewilligten Demonstration auf dem Neumarkt interveniert und dabei auch Pfefferspray eingesetzt. Das 1. Mai-Komitee sprach von «eskalierender Polizeigewalt», die Polizei rechtfertigte sich damit, dass es während des Umzugs «unzählige Sprayereien» gegeben habe. Insgesamt sei ein Sachschaden von mehreren 10’000 Franken entstanden.
Als einen der Sprayer schien die Staatsanwaltschaft einen heute 24-jährigen Studenten identifiziert zu haben. Vom Richter zu den Vorwürfen befragt, murmelte dieser jeweils ein leises «verweigere meine Aussage». Genauso hatte es der Liechtensteiner auch bei der polizeilichen Einvernahme gemacht, weshalb wenig über ihn bekannt ist. Klar wurde jedoch, dass er keinen einwandfreien Leumund hat. Wie in der Verhandlung bekannt wurde, gibt es aufgrund von Sachbeschädigung einen rechtskräftigen Strafbefehl aus Basel-Stadt vom Februar 2023. Ob diese im Zusammenhang mit einer Demonstration steht, wollte der Anwalt des Angeklagten nicht kommentieren
Er forderte im vorliegenden Fall einen Freispruch in allen Punkten. Die in den Polizeiakten enthaltenen Bilder und Videos seien nicht verwertbar. Insbesondere das Video stamme mutmasslich von einer Drohne, es gebe aber keinerlei Informationen dazu, ob die Aufnahme aus polizeilichen Quellen oder von einer Privatperson stammte. Dass sein Mandant an der Demo teilgenommen hat, bestritt er nicht. Wohl aber, dass er auf den Beweismaterialien zu erkennen sei oder dass darauf effektiv Sachbeschädigungen zu sehen seien.
Zu diesem Schluss kam auch das Gericht. Es sprach ihn von den beiden grösseren Anklagepunkten, der Hinderung einer Amtshandlung und dem Landfriedensbruch frei. Gegen das Vermummungsverbot habe er durch das Tragen einer Hygienemaske jedoch verstossen. Das gehe aus dem von der Polizei vorgelegten Bildmaterial klar hervor.
Die von der Staatsanwaltschaft geforderte Geldstrafe von 150 Tagessätzen liess das Gericht komplett fallen, die Busse reduzierte es von 200 auf 100 Franken, weil der Student vor einem Jahr bereits einen Tag in Haft verbracht hatte, der ihm nun angerechnet wurde. Die Gerichtskosten muss er wegen seiner «bescheidenen finanziellen Verhältnisse» nicht bezahlen.
«Es bleibt eine Schlappe für Polizei und Staatsanwaltschaft»
Kollektiv «Gemeint sind wir alle!»
«Wir erwarten keine Gerechtigkeit von der bürgerlichen Rechtssprechung», hatte ein Sprecher des Komitees vor dem Gerichtstermin gesagt. Die Entscheide hielten beide Sprecher:innen, die sich nicht namentlich nennen lassen wollten, für willkürlich. Kriminalisiert würden sie sowieso, wenn nicht mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs oder der Sachbeschädigung, dann mit etwas anderem.
Nach dem milden Urteil zeigten sie sich etwas weniger kämpferisch. «Es ist sicher gut, ist die Busse nun weniger hoch», sagte eine Auskunftsperson. Vermutlich werde sie vom Kollektiv übernommen. «Es bleibt eine Schlappe für Polizei und Staatsanwaltschaft.»
Wie das Komitee nach dem Termin bekanntgab, wird es für die beiden Verhafteten von letzter Woche erneut aktiv werden. Bald stehe zudem ein weiterer Gerichtstermin für eine der drei am 1. Mai 2024 festgenommenen Personen an, auch dort will sich die Gruppe solidarisch zeigen. Und auch, wenn sich die Besetzer:innen der Gisi Ende Mai mit der Immobilienverwaltung Terresta vor der Schlichtungsstelle treffen.
Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.
Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.