«Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen»
Winterthur ist als Industriestadt auch eine Migrationsstadt, denn in den Hallen von Sulzer, Rieter, SLM und Co brauchte es viele Arbeitskräfte, die für wenig Lohn und unter schwierigen Bedingungen bereit waren, in die Schweiz zu kommen. Eine Podiumsdiskussion des Vereins «Tesoro» gab am Mittwoch Einblicke in die Welt der Saisonniers.
«Buongiorno Winti!» Für diese Begrüssung wäre ich vor siebzig Jahren vielleicht noch wüst beschimpft worden. Die Schweizer Bevölkerung war italienischen Saisonniers gegenüber nicht freundlich gesinnt. Dabei kamen die jungen Leute aus Italien, aber auch aus Ex-Jugoslawien, Spanien oder Portugal in die Schweiz, weil die Industrie händeringend Arbeitskräfte suchte. Die Industriestadt Winterthur erlebte ihre Blüte nur dank ausländischen Arbeitskräften, die für wenig Lohn und unter schwierigen Bedingungen bereit waren, in die Schweiz zu kommen. Viele von ihnen sind geblieben, auch wenn es die Schweiz ihnen nicht einfach gemacht hat.
Genau das war Thema an einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend zum Thema «Familiengespräche - Wenn die Politik mit am Tisch sitzt» im Museum Schaffen. Mitdiskutiert haben Betroffene, der Verein «Tesoro» und der Winterthurer Mitte-Politiker André Zuraikat. Ein grosses Thema war das Bundesgesetz über «Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer» (ANAG), das ab 1934 regelte, wer unter welchen Bedingungen in die Schweiz kommen durfte. Im Publikum sassen einige Personen, die am eigenen Leib erfahren haben, was dieses Gesetz für konkrete Auswirkungen haben konnte: Kinder wuchsen von ihrer Familie getrennt auf, weil sie nicht einreisen durften, Ehepaare durften nicht zusammen wohnen, da Firmen ihre ausländischen Mitarbeiter:innen nach Geschlecht getrennt untergebracht hatten. Das Thema sei immer noch sehr emotional, erzählen mir Mutter und Tochter, die zusammen an die Podiumsdiskussion gekommen sind. Die Mutter stammt ursprünglich aus der Toskana und hat unter anderem für Sulzer in Oberwinterthur gearbeitet.
Der Verein Tesoro möchte dafür sorgen, dass Betroffene eine Entschuldigung und eine Entschädigung erhalten. Das ANAG habe vielen Menschen grosses Leid angetan:
«Mit dem ANAG sind von 1934 bis 2002 circa eine halbe Million Kernfamilien getrennt worden, das heisst, eine halbe Million Mütter, eine halbe Million Väter und circa eine Million Kinder.»
Melinda Nadj Abonji, Vorstandsmitglied Verein Tesoro
«Wir riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen.» Das schreibt der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965. Und beschreibt damit, was die Verantwortlichen bei der Fremdenpolizei noch jahrelang zu ignorieren versuchten. Denn die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft wollte flexible Arbeitskräfte, die man jederzeit wieder loswerden könnte. In der Schweiz bleiben oder sich integrieren sollten sich die Menschen aus dem Ausland nicht. Die Fremdenpolizei und die Behörden argumentierten mit der «Überfremdung» der Schweiz. In diesem fremdenfeindlichen Zeitgeist entstand in den 1920ern Jahren auch das Bundesgesetz über «Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer» (ANAG). Dieses Gesetz regelte das Saisonnierstatut und die Jahresaufenthaltsbewilligung, mit denen die meisten ausländischen Arbeitskräfte in die Schweiz eingereist sind. Nach Ablauf einer neunmonatigen Frist oder spätestens nach einem Jahr mussten sie wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Ein normales Familienleben zu führen, war unter diesen Umständen fast nicht möglich. Ehepaare durften nicht zusammenleben, da die Unterkünfte nach Geschlechtern getrennt waren, Kinder nicht mitgenommen werden in die Schweiz. Untergebracht waren die anfangs fast nur aus Italien stammenden Migrant:innen in Winterthur beispielsweise an der Hegifeldstrasse 76a/b, wie im Winterthurer Glossar zu lesen ist. Die 135 Zimmer wurden einzeln an Sulzer-Mitarbeiter:innen vermietet. Das Haus steht noch und dient heute als Asylunterkunft. Vor 1963 baute Sulzer jedoch Holzbaracken für die «Sulzeraner ausländischer Herkunft» und nannte die Siedlung «Villaggio Oberwinterthur». Ab 1947 standen solche Baracken beispielsweise neben der Halle 710 im heutigen Neuhegi. Die Baracken boten Wohnraum für 400 Männer auf engstem Raum. Dieses Vorgehen von Sulzer war in der ganzen Schweiz Programm und diente dazu, Einheimische und Migrant:innen zu trennen. Bei Sulzer sah man in diesem Ausschluss der Arbeiter:innen aus der Gesellschaft kein Problem: das Villaggio sei «ein südländisches Idyll, in dem der italienische Mitarbeiter seine nationale Eigenart pflegen kann». Eine Wohnung auf dem freien Markt zu finden, war fast unmöglich, nicht nur wegen der tiefen Gehälter, sondern weil die Schweizer:innen nicht an Italiener:innen vermieten wollten.
Tesoro kämpft seit 2021 dafür, dass solches Leid, verursacht durch das ANAG, anerkannt wird. Paola De Martin ist Mitbegründerin und Präsidentin des Vereins. «Für mich war die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative eine Retraumatisierung. Die Quintessenz daraus war aber, dass ich den einsamen Groll, den ich immer hatte, in heilsames, kollektives Handeln umwandeln konnte», erzählt sie. Sie selbst musste, wie viele andere italienische Kinder, versteckt vor den Behörden leben. Im Verein seien viele Betroffene aktiv, aber nicht nur, denn: «Es geht in der Gesellschaft alle etwas an. Wir wollen, dass in der Öffentlichkeit über das Leid gesprochen wird», erklärt Melinda Nadj Abonji, auch sie ist im Vorstand des Vereins.
Wichtig sei auch die Einsicht, dass das ANAG rassistische und eugenische Züge aufgewiesen habe:
«Beim ANAG ging es nicht nur um die Produktion, also die kapitalistische Ausbeutung, sondern eben auch um die Reproduktion. Also wer eigentlich Kinder haben durfte und wer nicht.»
Paola De Martin, Präsidentin Verein Tesoro
Gleichzeitig ist auch die Forschung zum Thema wichtig. Da gebe es aber manchmal unüberwindbare Hürden, sagt Paola De Martin: «Wir sind daran, bei allen kantonalen Parlamenten nachzufragen, wo die Akten der Fremdenpolizei sind. Leider ist das ein grosser Flickenteppich. Im Kanton Zürich sind zum Beispiel alle Akten der Fremdenpolizei vor 1973 zerstört worden. Dabei wäre das so wichtig. Für die Betroffenen, für die Forschung und für die zukünftigen Generationen!».
In Winterthur erinnert heute nichts an das ehemalige Villaggio oder an die vielen Menschen, die mit ihrer Arbeit die Industriestadt geprägt haben. Dabei könnte uns jede der zahlreichen alten Industriehallen ein Denkmal dafür sein, welchen Preis migrantische Familien oftmals für unseren Wohlstand gezahlt haben.
Gioia ist nicht nur in der Redaktion bei WNTI tätig, sondern arbeitet auch als Videoredaktorin bei SRF News. Winterthur kennt sie bestens, denn sie verbrachte hier ihre Gymnasialzeit. Ausserdem ist es gut möglich, dass sie mehr über dein Haus weiss als du selbst, denn schon bei der Historiker:innen Zeitschrift schrieb sie über die faszinierenden Geschichten, die in den Mauern und Fassaden der Städte verborgen sind. Ihre Leidenschaft für die früheren Lebenswelten der Winterthurer:innen ist ebenso ausgeprägt wie ihre Neugier auf die Lebensrealitäten anderer Menschen.