Verstorbene «beim Namen nennen»

Weltweit gelten über 120 Millionen Menschen als Vertriebene. Unter anderem mit einer Installation auf dem Kirchplatz gedachten Winterthurer:innen am Wochenende den Opfern dieser Fluchtbewegungen.

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Jeder Papierstreifen: Gedenken an eine auf der Flucht verstorbene Person. (Bild: Tizian Schöni)

Es war ein typischer Samstags-Soundmix auf dem Kirchplatz: Kinder tobten johlend um den Brunnen und wurden ab und zu laut von ihren Eltern ermahnt, wenn sie es zu doll trieben. Eine Blasmusiktruppe hielt im Rahmen des städtischen Musiktags ihr Platzkonzert und spielte Simon & Garfunkel.

Aber der echte «Sound of Silence» war auf der Südseite des Kirchplatzes zu hören. Dort flatterten tausende weisse Papierstreifen im Wind. Jeder einzelne von ihnen ein Mahnmal, ein Grabstein für sich ‒ denn auf jedem war die kurze Geschichte eines Verstorbenen zu lesen. Die an Schnüren befestigten Schnipsel erzählten vom Tod einer geflüchteten Person. Und wie sie sich im Wind bewegten, jeder für sich, schwoll ihr Flattern im Zentrum der ovalen Installation zu einem Rauschen an, das unüberhörbar war.

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(Bild: zvg)

«Beim Namen nennen» hiess die Aktion, die auf der Flucht gestorbenen Menschen gedenkt. Sie findet jährlich zum internationalen Flüchtlingstag der Vereinten Nationen statt. Verschiedene deutsche und Schweizer Städte nehmen teil, dieses Jahr erstmals auch Winterthur. Die Namen von Verstorbenen werden dabei von Menschen vor Ort verlesen, auf Papier oder Stoff geschrieben und an einer Installation aufgehängt. Gesammelt und konserviert werden die Schicksale von der Hilfsorganisation United for Intercultural Action, die eine «List of Deaths» führt.

Organisiert wurde der Anlass von den Winterthurer Kirchen, dem Solinetz, Benevol, der Stadt, dem Haus der Solidarität Nord-Süd und dem Verein für Integration durch Wohnen. Die Installation wurde von Hannes, Mathis und Markus Jedele geplant. In seinem Grusswort schlug SP-Stadtrat und Sozialvorsteher Nicolas Galladé eine Brücke zu den Architekten: «Es sind auch sie gewesen, die bereits vor zehn Jahren, als wir viele Flüchtlinge aus Syrien und den benachbarten Ländern kurzfristig aufnahmen, mit Holzhäusern in der Kirche Rosenberg und im alten Busdepot Deutweg dazu beigetragen haben, dass wir rasch und unkompliziert in Winterthur Flüchtlinge aufnehmen konnten», erinnerte er. Dieses «Global denken, lokal handeln», sei ihm ein Leitspruch in Engagement und Politik.

Wenn er sich zehn Jahre zurückerinnere, als die grosse Fluchtbewegung aus Syrien kam, habe er häufig zur Einbettung auf die Flüchtlingszahl weltweit hingewiesen, sagte Galladé weiter. Er habe dann jeweils von etwa 60 Millionen gesprochen. Heute gelten laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR über 120 Millionen Menschen der Weltbevölkerung als Vertriebene ‒ Europa ist von Fluchtbewegungen im Vergleich dazu nur leicht betroffen. Rund eine Million Asyl-Erstanträge registrierten die EU-Länder insgesamt 2023. Die Schweiz verzeichnete 2024 etwas über 27’000 Asylanträge, 130’000 Personen befinden sich insgesamt im Asylprozess. Davon sind fast 70’000 Ukrainer:innen mit Schutzstatus S.

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«Man könnte angesichts der grossen globalen Zahlen und der einzelnen Schicksale auch in Ohnmacht, Passivität und in Depression verfallen. Das hilft aber niemandem.»

Nicolas Galladé (SP), Stadtrat, Departement Soziales

Der Flüchtlingstag wurde von einem vielfältigen Rahmenprogramm begleitet. Nach einem Auftritt der Solinetz-Theatergruppe Homa sprachen am Nachmittag die Winterthurer Nationalrätin Mattea Meyer (SP) und der Ethiker und Nidwaldner Kantonsrat Thomas Wallimann (Grüne). «Meist haben jene Menschen am meisten Angst, die niemanden in einer solchen Situation kennen», sagte dieser. Umgekehrt gelte das für Personen, die um individuelle Schicksale wüssten. Meyer stimmte zu: «Wenn der Schulfreund des eigenen Kindes zurückmuss, wird auch der härteste SVPler weich.»

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Vor einem voll besetzten Festzelt sprachen Thomas Wallimann (Nidwalden, Grüne) und Mattea Meyer (Winterthur, SP) über die Herausforderungen in der Migrationspolitik. (Bild: Tizian Schöni)

Als Ethiker betrachte er die Herausforderung auf verschiedenen Ebenen: jener der persönlichen Kontakte, die Ebene der Gruppen, etwa innerhalb einer Gemeinde, und die nationalen und globalen Ebenen. «Wo geht es um Machtpolitik, wo um Menschenwürde?», fragte er rhetorisch und übte auch Kritik an der Politik: «Oft verhindert eine starke parteipolitische Kontrolle das Handeln auf regionaler Ebene.»

Nähe herzustellen war ein erklärtes Ziel der Aktion «beim Namen nennen». Nach der politischen Podiumsdiskussion trat der ukrainische Chor «Perespiv» (Hin-und-Her-Singen) auf ‒ unter dem begeisterten Publikum waren auch einige Blasmusikfans.

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Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

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