Wie eine Winterthurer Illustratorin Heimschicksale sichtbar macht

Simone Stolz gibt in ihrem neuen Buch den Geschichten ehemaliger Heimkinder eine Stimme. Entstanden ist eine eindrückliche Annäherung an ein verdrängtes Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte.

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Simone Stolz beim Zeichnen. (Bild: Marit Langschwager)

Heimat fühlt sich nicht immer gleich an, aber sie kann überall sein. Doch was, wenn dieses Gefühl nie entstehen durfte? Wenn statt Geborgenheit Einsamkeit, statt Lachen Strenge den Alltag prägte?

Bis weit in die 1980er Jahre wurden in der Schweiz zehntausende Kinder und Jugendliche aus ihren Familien gerissen und in Heimen oder Anstalten fremdplatziert. Was offiziell als fürsorgerische Massnahme galt, bedeutete für viele dieser Kinder Isolation, harte Arbeit und ein Leben voller Angst. Die Winterthurer Illustratorin Simone Stolz nähert sich diesen Erlebnissen ehemaliger Heimkinder durch Zeichnungen und Gespräche an und hat nun ein Buch veröffentlicht.

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Entwürfe, die mit der Zeit entstanden sind. (Bild: Marit Langschwager)

Mit jedem Strich tastet sich Simone in eine Vergangenheit vor, die lange im Verborgenen lag. Ihre Hand zittert nicht, obwohl das, was sie festhält, schwer ist: Erinnerungen, die nicht ihre eigenen sind. Durch eine Reportage erfährt sie erstmals von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und will die Erlebnisse dieser Menschen erzählen.

Die Schicksale von Marco und MarieLies und deren Suche nach Identität ziehen sich in monochromen Blautönen durch das Buch «Dazwischen die Einsamkeit». Es zeigt auf persönliche und eindrückliche Weise, was viele Kinder und Jugendliche damals in Heimen erlebt haben. Das Buch hilft dabei, dieses Kapitel der Schweizer Geschichte besser zu verstehen und sichtbar zu machen.

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«Ich wollte die Geschichte nicht nur von ihnen, sondern auch mit ihnen erzählen»

Simone Stolz, Illustratorin

Über zwei Jahre arbeitete sie gemeinsam mit den Betroffenen an den Zeichnungen und Inhalten. Besonders wichtig war der Illustratorin, dass das Bild, das sie zeichnet, mit ihren Erinnerungen übereinstimmt: «Ich wollte die Geschichte nicht nur von ihnen, sondern auch mit ihnen erzählen», erklärt die 26-Jährige. Für viele Betroffene habe die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit alte Wunden wieder aufgerissen. Gleichzeitig sei es für sie wichtig gewesen, an dem Projekt mitzuwirken.

Das Zeichnen bezeichnet Simone als ihr «Medium». Sie möchte mit ihren Werken Menschen erreichen und zum Nachdenken anregen. «Durch das Zeichnen kann ich Erinnerungen abbilden, die vorher noch nicht da gewesen sind. Dadurch kann ich eine Schwebe herstellen, in der sich jeder erkennen kann.» Durch das Buch erhofft sie sich mehr Sichtbarkeit und eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Thema. Sie hat ihre erste Vernissage in Basel veranstaltet und möchte zukünftig Lesungen im Raum Winterthur anbieten. Doch vor allem will sie weiterhin Geschichten erzählen, «die vorher noch nicht da waren».

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Ausschnitte aus dem Buch «Dazwischen die Einsamkeit». (Bild: Marit Langschwager)

Auf die Frage, was für sie Heimat bedeutet, reagiert sie mit einem verhaltenen Lächeln und einem Schmunzeln. Keine einfache Frage, wie sie sagt. Doch dann findet sie doch recht klare Worte: «Für mich ist es ein Ort oder Raum, in dem ich mich wohlfühle. Und dann sind es Leute. Bei denen ich weiss, dass ich nicht alleine bin.»

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Marit Langschwager verdiente ihre Sporen im Lokaljournalismus bei der «Neuen Westfälischen» ab. Sie wohnt in Winterthur und arbeitete unter anderem bei der NZZ und im SRF-Newsroom. Vom Pressedienst der russischen Botschaft wurde sie schon als «wenig bekannte, junge Journalistin» abgekanzelt – eine unzweifelhafte Ehre, finden wir.

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Kommentare

Martin Frischknecht
08. Juli 2025 um 08:06

Aus Liebe zum Buch

Von einem Buch ist die Rede, und ich bekomme Lust, es in die Hand zu bekommen, darin zu lesen: «Ein Königreich für bibliografische Angaben!»