Über Tempo 30 entscheiden die Gemeinden

Das Stadtparlament will sich die Tempohoheit auf seinen Strassen nicht nehmen lassen. Es beschloss gestern das Referendum gegen die bürgerliche Mobilitätsinitiative.

20250603_Zielbild Tempo_Stadtrat
Aus dem Zielbild Temporegime der Stadt von 2021: Auf grünen Strassen soll Tempo 30 gelten, rot bleibt Tempo 50. (Bild: Stadt Winterthur)

Das Winterthurer Stadtparlament beschloss gestern mit 31 zu 22 Stimmen ein sogenanntes Gemeindereferendum gegen die Mobilitätsinitiative.

Dieser Entscheid ist technisch gesehen nur noch Formsache, oder wenn es nach Marco Graf (SVP) geht, sogar «reine Zeitverschwendung». Denn im Kanton Zürich gibt es gleich drei Möglichkeiten, wie das Volk zum letzten Wort kommt, und nur eine muss greifen. Erstens können 3000 Stimmberechtigte das Referendum verlangen, 45 Kantonsratsmitglieder ‒ oder die Gemeinden Winterthur und Zürich durch ihre Parlamente. Im Kantonsrat wurde das Referendum ergriffen, der Gemeinderat der Stadt Zürich hat den Beschluss vor zwei Wochen bereits gefasst, jetzt zieht Winti nach.

Ein bürgerliches Initiativkomitee aus SVP und FDP reichte Ende 2022 auf kantonaler Ebene eine Volksinitiative ein ‒ 6000 Unterschriften sind dafür nötig. Sie will den Gemeinden das Recht entziehen, auf Hauptverkehrsachsen Tempo 30 einzuführen. Selbst dann, wenn die Strasse der Gemeinde und nicht dem Kanton gehört. Heute können die Kommunen Tempo 30 zum Beispiel aus Lärmschutzgründen verordnen.

Die Fronten im Parlament waren klar: Die Bürgerlichen lehnten den Antrag des Stadtrats, das Gemeindereferendum zu ergreifen, ab. Argumentiert wurde damit, dass der Kanton entscheiden solle, weil er den grössten Teil der Kosten auf den überkommunalen Strassen trage. Oder, dass Tempo 30 beim Lärmschutz weniger wirksam sei als etwa ein Strassenbelag, auf dem die Autos besonders leise rollen. Marc Wäckerlin (SVP) sagte nach einem ausschweifenden Votum schlicht: «Tempo 30 ist einfach ein Seich.»

Ganz anders die andere Parlamentshälfte aus GLP, EVP, Grüne, SP und AL, die sich auf der stärkeren Seite wussten. Selim Gfeller (SP) kritisierte den Kantonsrat: «Eine unliebsame städtische Verkehrspolitik soll verhindert werden.» Darauf, dass die Initiative die Gemeindeautonomie einschränke und damit gegen die Kantonsverfassung verstosse, wies Katharina Frei (Grüne) als Referentin von der Stadtbaukommission sogar schon in der Vorstellung des Geschäfts hin. 

Im März dieses Jahres befand der Kantonsrat über die Initiative, und stimmte ihr hauchdünn mit 88 zu 87 Stimmen zu. Jetzt wird an der Urne entschieden.

Stadtwerk baute für 40 Millionen

Das Parlament hatte an der gestrigen Sitzung als Erstes die Aufgabe, eine Kreditabrechnung abzunehmen. Damit nehmen die Parlamentarier:innen eine Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung wahr. Wäre zum Beispiel viel zu viel Geld ausgegeben worden, könnte das Gremium nun einen Riegel vorschieben. Worum gings?

2012 befürworteten die Winterthurer:innen einen 40-Millionen-Kredit, damit das Stadtwerk sein Geschäftsfeld «Energie-Contracting» weiter ausbauen konnte. Mit dem Geld baute der Energieversorger zum Beispiel Heizungen für grosse Überbauungen, die Eigentümerschaft zahlte dann vorab vereinbarte Preise für die Energie. Knapp 40 Projekte wurden damit finanziert, wie Nora Ernst (GLP) von der Sachkommission Umwelt und Betriebe bei der Vorstellung sagte. Das grösste Geschäft war mit einem Volumen von über zehn Millionen Franken die Erstellung einer Heizzentrale mit Wärmeverbund im Quartier Waser in Seen. Die zentrale Holzschnitzelheizung versorgt die umliegenden Liegenschaften auf 40 Hektaren Fläche, laut Projektbeschrieb werden dadurch jährlich 2500 Tonnen CO₂ eingespart. Laut Ernst sei ein 2015 verabschiedeter Folgkredit über 70 Millionen Franken schon fast wieder ausgeschöpft.

Der Kredit wurde um rund 1,2 Millionen Franken überschritten, das sei laut der Referentin in einer Änderung der Abrechnungsmethode begründet. Andreas Geering (Mitte) kritisierte zwar, dass ‒ vom Stadtrat offengelegte ‒ Buchungsfehler passiert seien und dass die einzelnen Projekte nicht standardisiert abgerechnet wurden. Seine Fraktion stimmte der Kreditabrechnung trotzdem zu, genau wie alle anderen. Sie wurde vom Parlament einstimmig angenommen.

Die Motionen

Motionen sind eine Handlungsanweisung an den Stadtrat. Werden sie vom Parlament überwiesen, arbeitet dieser eine Umsetzungsvorlage aus, die wiederum vom Parlament angenommen werden muss.

  • Stadtrat soll Feiertage bei amtlichen Publikationen berücksichtigen: Mit 38 zu 15 Stimmen überwies das Parlament eine Motion von Parlamentarier:innen beider Seiten. Das Ziel: Die amtliche Publikation gebundener Kosten soll künftig sieben Tage vor und drei Tage nach Feiertagen veröffentlicht werden, damit genügend Zeit bleibt, um die kurze Rekursfrist von fünf Tagen wahrzunehmen.

Die Interpellationen

Interpellationen sind ein Kontrollinstrument. Sie werden jedoch ‒ anders als blosse Anfragen ‒ nach Beantwortung durch den Stadtrat im Parlament diskutiert.

  • Eine Antwort, aber keine besonders aussagekräftige: So nahm Nicole Holderegger (GLP) zusammengefasst Stellung zur Antwort der Schulpflege auf eine von ihr eingereichte Interpellation. Sie hatte gefragt, wie die Winterthurer Schulen mit Schüler:innen «mit einem sozial herausfordernden Verhalten» umgingen. Das sei eine weit gefasste Definition, gab Thomi Gschwind (SP) zur Antwort. Er stimmte aber zu, dass dieses Thema das Stadtparlament noch oft beschäftigen werde. Die fünf Unterzeichnenden interessierte besonders die Massnahme, störende Kinder in andere Klassen zu versetzen. Genaue Zahlen, wie oft diese ergriffen wurde, konnte die Schulpflege aber nicht liefern.
  • Vorführmodelle bei grossen Überbauungen: Eine Interpellation der Bürgerlichen wollte vom Stadtrat wissen, bei welchen Bauprojekten das Amt für Städtebau ein 1:1 Modell – zum Beispiel von geplanten Gebäudefassaden verlangt. Diese kosteten die Bauherrschaft viel Geld, SVP-Parlamentarier Philipp Angele sprach gar von einer Viertelmillion Franken für ein Modell der Eichwaldhof-Siedlung. Bauvorsteherin Christa Meier (SP) beschwichtigte: Sogenannte «Mockups» würden nur in sehr speziellen Fällen verlangt.
  • Bauausschuss oder Baukommission? Einmal mehr sprach Andreas Geering (Mitte). Er fragte beim Stadtrat nach, weshalb der Stadtrat zur Beurteilung seiner Bauvorhaben nicht auf eine Baukommission und damit auf externe Fachpersonen zurückgreift. Bisher beurteilt der Bauausschuss, bestehend aus Mitgliedern des Stadtrats, die Vorhaben. Bauvorsteherin Christa Meier sagte, der Ausschuss sei günstiger, organisatorisch einfacher und praxisorientierter unterwegs.
  • Poller und Fussgängerstreifen auf der Stadthausstrasse: Kürzlich waren sehbehinderte Personen an der Stadthausstrasse bereits Thema einer Anfrage aus dem Parlament (WNTI berichtete). Nun antwortete der Stadtrat auf eine ein Jahr alte Anfrage des mittlerweile ausgeschiedenen Stadtparlamentariers Pascal Werner (SVP). Während Livia Merz (SP) fand, die Verkehrsteilnehmenden hätten sich mittlerweile an die neue Situation gewöhnt, behauptete Romana Heuberger (FDP) das Gegenteil: Eine «zugegeben nicht repräsentative Umfrage» vor Ort habe ergeben, dass Fussgänger:innen noch immer meinten, sie hätten Vortritt in der 30er-Zone.
  • Zirkuläres Bauen war bereits Thema in einem Wintibrief. Die Unterzeichnenden einer Interpellation aus allen Fraktionen wollten vom Stadtrat wissen, wo die Stadt bezüglich der Wiederverwertung von Bauteilen steht. Kurze Zusammenfassung: Das Bewusstsein ist da, die Massnahmen sind jedoch noch etwas stiefmütterlich. So seien zum Beispiel aus alten Spielerkabinen zwei Schutzhäuschen für Kameraleute im Stadion Schützenwiese gebaut worden. Und Küchenzeilen, Wandtafeln und Garderobenschränke würden teilweise stadtintern wiederverwendet.
  • Zu spät im Parlament? Die Interpellant:innen waren der Meinung, dass grosse Bauprojekte oft erst dann ins Parlament kommen, wenn sie kaum mehr gestaltet werden können, ohne dass dadurch hohe Zusatzkosten oder Verzögerungen entstünden. Zudem würden die Projekte, wie etwa beim Schulhaus Langwiesen (der Landbote berichtete) wegen der langen Planungszeit viel teurer als ursprünglich geplant. Der Stadtrat und die linke Ratshälfte aus Grünen und SP sahen das anders ‒ sie argumentierten, mehr Entscheidungsspielraum des Parlaments führe nur zu noch längeren Planungszeiten.
20250603_Schulhaus Langwiesen_Dahinden Heim Architekten
Nicht nur das Parlament, auch anderes braucht manchmal länger. Zum Beispiel die Schulraumplanung des Schulhauses Langwiesen. Um sie und die damit verbundenen Mehrkosten ging es in einer Interpellation. (Bild: Dahinden Heim Architekten)
WNTI-Portrait-Tizian-Schoeni

Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare