Tempo 30: Soll der Kanton das Steuer übernehmen?

Bis 2040 soll in Winterthur fast überall Tempo 30 gelten. Doch die Bürgerlichen finden, das soll nicht die Stadt entscheiden.

158 Gemeinden dürfen nicht selbst entscheiden. Wollen sie Tempo 30 auf den Kantonsstrassen anordnen, die durch ihr Gebiet führen, müssen sie dafür beim Kanton anklopfen. Die Grossstädte Winterthur und Zürich jedoch definieren selbst, wie schnell auf ihren Hauptverkehrsachsen gefahren wird.

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Bis 2040 will die Stadt auf allen grün markierten Strassen Tempo 30 eingeführt haben. (Bild: Stadt Winterthur)

Diese Ausnahmeregelung im Strassengesetz ist den bürgerlichen Parteien seit Jahren ein Dorn im Auge. Nun versuchen sie, den Grossstädten dieses Recht mit einer Initiative zu entziehen. Am 30. November stimmen wir über die Mobilitätsinitiative ab. Sie will das Recht, auf den Strassen im Stadtgebiet Tempo 30 festzulegen, alleine dem Kanton zuschanzen.

Seit letzter Woche haben SVP, FDP und Mitte in Winterthur einen zusätzlichen Grund dafür: Auf der Tösstalstrasse soll nach der Sanierung fast durchgehend Tempo 30 gelten. So geht es aus den Plänen der Stadt hervor, die jetzt aufliegen. Die Hauptverkehrsachse in Richtung Seen wäre die erste, auf der die reduzierte Geschwindigkeit über eine längere Strecke gelten würde. Eine im Vorfeld lancierte Petition der SVP-Sektionen Altstadt-Mattenbach und Seen hatte 1500 Unterschriften gegen das neue Temporegime gesammelt. Die Einwendung wurde jedoch nicht berücksichtigt, mit einem schlichten Verweis auf das Zielbild Temporegime.

Das Petitionskomitee sei enttäuscht, dass der Stadtrat auf die berechtigten Anliegen aus der Bevölkerung nicht eingehe, heisst es in einer Mitteilung der Partei. Allerdings stammt auch der Wunsch nach Tempo 30 aus der Bevölkerung, beziehungsweise dem Stadtparlament. Das Zielbild Temporegime ging überhaupt erst aus einem Postulat hervor, das 2019 deutlich an den Stadtrat überwiesen wurde. Diese Mehrheitsverhältnisse haben sich auch in der aktuellen Legislatur nicht geändert: Das Referendum gegen die Mobilitätsinitiative beschloss das Parlament mit 31 zu 22 Stimmen.

Wichtigstes Argument für eine Temporeduktion ist der Lärmschutz. Der ist gleichzeitig der zentrale Grund, weshalb die Stadt Tempo 30 anordnet. An den meisten Hauptverkehrsachsen, auch an der Tösstalstrasse, werden die Grenzwerte der Lärmschutzverordnung heute überschritten, teilweise massiv. Das geht aus dem «Akustischen Projekt» hervor, das die Stadt zur Sanierung erarbeiten liess.

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Bei 19 Liegenschaften (rot) wird an der Tösstalstrasse der «Alarmwert» von 70 Dezibel überschritten. In diesen Liegenschaften tönt der Verkehrslärm so laut wie ein Staubsauger oder ein Haarföhn. (Bild: Suter Ingenieurbüro)

Die Stadt spricht von 3500 Betroffenen, die heute übermässigen Lärm erdulden müssen ‒ das dürfte jedoch sehr grosszügig gerechnet sein. Im Gutachten wurde pauschal eine Haushaltsgrösse von drei Personen veranschlagt. Der Winterthurer Durchschnitt liegt aber bei 2,17 Personen ‒ mit dieser Zahl gerechnet wären das rund 1000 Betroffene weniger. Auf Nachfrage heisst es dazu aus dem Baudepartement, im Kanton Zürich werde mit der «Standard-Belegung» von drei Personen pro Wohneinheit gerechnet, damit die verschiedenen Projekte vergleichbar seien. Auch der Kanton bestätigt dies auf Anfrage.

Auch wenn weniger Menschen an der Tösstalstrasse vom Verkehrslärm betroffen sind als berechnet ‒ viele sind es allemal. Damit die Lärmsanierung möglichst wirksam ist, möchte die Stadt deshalb nicht nur Tempo 30 anordnen. Sie plant zusätzlich, einen lärmarmen Strassenbelag zu verbauen. Und selbst mit diesen beiden Massnahmen müssten laut dem Gutachten noch bei 75 Liegenschaften Schallschutzfenster eingebaut werden, damit dort die Grenzwerte nicht überschritten würden.

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Im vergangenen Jahr wurde auf 50er-Strecken 21 Mal oder etwa in einem Prozent aller Unfälle mit Personenschaden jemand getötet. Auf Strecken mit Tempo 30 lag das Risiko zu sterben viermal tiefer. (Bild: Kapo ZH)

Nebst dem Lärmschutz ist die Sicherheit ein zentrales Argument für Tempo 30. Die Verkehrsunfallstatistik des Kantons zeichnet ein klares Bild (siehe Grafik). Auf der anderen Seite sei es für die Rettungsdienste schon heute schwierig, in der gesetzlich vorgeschriebenen Zeit vor Ort zu sein. Das sagte der Präsident des kantonalen Feuerwehrverbands, Beat Hirter, kürzlich an einem Podium zur Initiative (der «Tages-Anzeiger» berichtete). Mit flächendeckendem Tempo 30 wären die Blaulichtorganisationen in 30 Prozent der Fälle zu spät, schätzte der Berufsfeuerwehrmann.

Die verminderte Leistungsfähigkeit auf den Strassen ist denn auch das Kernargument gegen Tempo 30, nicht nur, weil sie die Blaulichtorganisationen einschränkt. Stadtparlamentarier Christian Maier (FDP) warf den Zeitverlust für Privatpersonen und Gewerbe ein. Und Werner Schurter (Mitte) bezifferte die Mehrkosten, um den Taktfahrplan der 2er-Linie auf der Tösstalstrasse zu halten, auf 428’000 Franken pro Jahr.

Argumente, die von Kantonsrat Urs Glättli (GLP) und den Stadtparlamentarier:innen Livia Merz (SP) und Reto Diener (Grüne) infrage gestellt wurden. Merz relativierte die Funktion von Hauptverkehrsachsen in Städten. Die Durchgangsstrassen seien nicht mehr nur Verkehrsträger, sondern längst auch Wohngebiet. Für Diener überwog der Nutzen die Kosten: Die Stadt erkaufe sich Sicherheit, Gesundheit und schliesslich Lebensqualität.

Glättli warf die Frage in den Raum, ob sich der Kanton bei einem «Ja» zur Initiative mit der Anordnung von Tempo 30 überhaupt zurückhalten würde. Denn auch er sei grundsätzlich dem Lärmschutz verpflichtet. Der Regierungsrat äusserte sich dazu bisher nur vage. Bundesrecht könne er auch mit der Annahme der Initiative nicht übersteuert werden. Ob er damit auch die Lärmschutzverordnung meinte, werden wir erst nach der Abstimmung erfahren.

WNTI-Portrait-Tizian-Schoeni

Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

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Von Gioia Jöhri

Kommentare

Christian Maier
09. November 2025 um 07:30

Diagramm "Unfälle nach Unfallfolgen und Höchstgeschwindigkeit"

Achtung: dieses Diagramm zeigt keine Kausalität, sondern den Geschwindigkeitsbereich, in welchem sich ein Unfall ereignet. Da heute (glücklicherweise) noch der Grossteil der Verkehrsleistung auf den Hauptverkehrsachsen (und damit mit 50 km/h) stattfindet, ist auch dort die Häufigkeit am höchsten. Das erklärt auch, wieso der Balken bei 80 km/h tiefer als bei 50 ist und bei 30 trotzdem so hoch. Durch die Reduktion der Geschwindigkeit wird entsprechend einfach der Balken bei 50 runter- und bei 30 hochgehen. In der Unfallstatistik wird im Diagramm "Hauptursache: Geschwindigkeit" die Unfälle genannt, welche durch die Hauptursache Geschwindigkeit verursacht werden. Es sind deren 13, 5 davon mit Personenschaden. Daneben ist zu bemerken, dass der überwiegende Teil der Unfälle (bei allen Verkehrsmitteln) Selbstunfälle sind. Hauptursache: Unaufmerksamkeit. Quelle: https://stadt.winterthur.ch/gemeinde/verwaltung/sicherheit-und-umwelt/stadtpolizei/aktuelles-news/news/5556