«Ein ernstzunehmendes kriminelles Problem» – Schattenseiten der beschränkten Haftung

Gesellschaften haben einen unschlagbaren Vorteil: Sie haften nur mit ihrem eigenen Vermögen. Die Kehrseite: Wer als Chef:in vorsätzlich schlecht wirtschaftet, kann persönlich kaum belangt werden. Wenn schon, dann fällt ein Urteil oft milde aus, wie ein Urteil des Obergerichts von Mitte September zeigt.

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Das Urteil des Obergerichts war milder als das des Bezirksgerichts Winterthur. Bild: Obergericht Zürich (Bild: Obergericht)

Ein Bauunternehmen verbaut in einem Gebäude in Winterthur rund 250 Gipsplatten. Bei einer Prüfung stellen Fachleute jedoch fest: Das Material erfüllt weder die Anforderungen an den Brand- noch an den Schallschutz. Also müssen sie komplett ersetzt werden, die Fertigstellung verzögert sich um anderthalb Jahre. Es entstehen Mehrkosten von 8,6 Millionen Franken.

Die Rede ist von der integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland (IPW) (der Tages-Anzeiger berichtete). Ihren Neubau hat sie im Frühling 2025 bezogen. Doch die Gretchenfrage ist die: Wer bezahlt den Schaden?

«Natürlich das Gipserunternehmen!», werden Sie denken. Weit gefehlt. Die Firma ist längst Konkurs. Und die Personen, die für das Fiasko verantwortlich sind, können kaum mehr belangt werden. Möglich macht das mitunter ein Sätzlein im Obligationenrecht: «Für ihre Verbindlichkeiten haftet nur das Gesellschaftsvermögen», heisst es dort zu der Aktiengesellschaft (AG) und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH). Das sind die beiden wichtigsten Formen juristischer Personen in der Schweiz.

Die Idee, Kapital in «juristischen» Personen zu bündeln, um damit risikoreiche Unternehmungen zu wagen, ist eigentlich revolutionär. 1602 entfesselte sie in den Niederlanden ein beispielloses Wirtschaftswachstum: Statt in ein maximales Risiko zu gehen und sein gesamtes Hab und Gut auf eine einzige, riskante Segelschifffahrt in den Fernen Osten zu setzen, konnten Kaufleute künftig ihr Geld in Aktien der Ostindien-Kompanie investieren. Die Kompanie haftete dann mit ihrem Kapital für die Schifffahrten. Für die erste moderne Aktiengesellschaft der Welt regnete es Geld ‒ und eine Dominanz im globalen Handel, die zwei Jahrhunderte andauern sollte.

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Eine Schifffahrt mit der Ostindien-Kompanie war weniger riskant, da die Aktiengemeinschaft haftete, nicht die Privatperson. Bild: Wikimedia (Bild: Wikimedia)

Für die Anleger:innen auf der anderen Seite gab es eine klare Haftungsbeschränkung. Sie hat sich bis heute gehalten, denn sie ist für das Funktionieren dieser Strukturen essenziell. Aber sie kann sich auch als Fallstrick erweisen.

Die erste Firma, die Sahmed Ameti (Name geändert) 2006 gegründet hatte, wurde bereits acht Monate nach ihrer Gründung mehrfach betrieben. Nach anderthalb Jahren war das Hochbauunternehmen nicht nur zahlungsunfähig, Ameti hatte es als einziger Geschäftsführer mit einer halben Million Franken Schulden belastet. Das lag nicht nur an einer geplatzten Geschäftsidee. Er hatte über die Firma auch Möbel gekauft, eine Wohnung im Ausland erworben und frühere Privatschulden gedeckt. Aber jetzt war Schluss, nur noch 4000 Franken lagen im Oktober 2010 auf dem Firmenkonto. Also: Konkurs?

Daran verschwendete der damals 36-Jährige keinen Gedanken. Stattdessen übertrug er seine GmbH an einen «Firmenbestatter». Dieser wechselte Sitz, Zweck und Name des Unternehmens und verwischte damit Spuren. Das funktionierte, weil die Handelsregister kantonal organisiert sind, das heisst: Wechselt ein Unternehmen den Kanton, wird die Firmengeschichte im bisherigen gelöscht. Im Handelsregister des neuen Kantons wird die Firma neu eingetragen, ohne jegliche Vorgeschichte. Das Geld verdiente der Bestatter mit den Gebühren, die er für den «Kauf» des zahlungsunfähigen Unternehmens verlangte. Und damit, dass er weiterhin gegen Rechnung auf die neue Firma einkaufte ‒ natürlich, ohne je zu zahlen. Bei der Einstellung des Konkursverfahrens 2011 erlitten sämtliche Gläubiger einen Totalverlust. So geht es aus der Anklage der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland hervor.

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    Illustration: Fabian Meister

Ametis Name tauchte indes nie in Verbindung mit einem Konkurs auf. Er hatte bereits 2008 eine weitere Firma gegründet, dieses Mal ein Transportunternehmen. Auch sie war «nur kurze Zeit wirtschaftlich tragfähig», wie es in der Anklage heisst. 

Dieses Spiel trieb er insgesamt mindestens viermal. Bis heute ist Ameti alleiniger Geschäftsführer einer GmbH. Im Laufe seiner Karriere sass er gar in mindestens 16 Kapitalgesellschaften ein. 

Die Anklageschrift nannte Misswirtschaft, Gläubigerschädigung, Irreführung und weitere Straftaten im Zusammenhang mit diversen Firmen. Im Visier der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland war er spätestens seit Anfang 2012, als diese eine Hausdurchsuchung bei ihm angeordnet hatte. Insgesamt, so hiess es seitens des Staatsanwalts am Obergericht, seien sieben verschiedene Staatsanwaltschaften und vier Polizeikorps involviert gewesen, es habe 70 Einvernahmen und 30 Rapporte gegeben. Ameti hatte nicht nur die Geschäftssitze seiner Firmen in verschiedenen Kantonen angelegt, er wechselte auch mehrmals seinen Wohnsitz. Der Vorteil: Ein stets leerer Betreibungsregisterauszug, wie der Staatsanwalt vermutete.

Für seine Vergehen wurde Ameti 2024 am Bezirksgericht Winterthur verurteilt. Es setzte seine Strafe auf 30 Monate Gefängnis, sechs davon unbedingt, und eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu 160 Franken fest. Die 108’000 Franken, die er für private Zwecke abgehoben hatte, hätte er dem Staat als Entschädigung zahlen müssen, genauso wie die Verfahrenskosten, die sich auf den stolzen Betrag von 118’000 Franken summierten.

Doch der Beschuldigte zog den Fall weiter an das Obergericht, Ende September wurde erneut verhandelt. Der Verteidiger plädierte für einen vollständigen Freispruch. «Was hat die Staatsanwaltschaft in den letzten dreizehn Jahren gemacht?», fragte er in den Saal. Für seinen Mandaten sei es psychisch belastend gewesen, nicht zu wissen, wie es weitergehe. Der Staatsanwalt verteidigte die langwierige Ermittlungsarbeit, die bereits am Bezirksgericht Thema gewesen war. Damals wurde die Gefängnisstrafe wegen Verletzung des Beschleunigungsgebotes um fast 18 Monate gekürzt.

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Immer wieder gibt es Schlagzeilen zu Misswirtschaft. Bild: WNTI

Für die auf Wirtschaftskriminalität spezialisierte Staatsanwaltschaft III war die Strafe jedoch zu tief. Seit 2016 führte diese das Verfahren. Misswirtschaft sei «ein ernstzunehmendes kriminelles Problem». Mehrere Personen hätten durch Ameti einen hohen Schaden erlitten. «Und dann gibt es nur eine so kleine Strafe – das kann nicht sein.»

Das Obergericht verurteilte den windigen Geschäftsführer unter anderem wegen mehrfacher Misswirtschaft, Pfändungsbetrug, Betrug und unterlassener Buchführung. Seine Strafe wurde auf 24 Monate Gefängnis und 20 Tagessätze gekürzt, auf den Forderungen von insgesamt knapp 240’000 Franken bleibt er sitzen. Die Gefängnisstrafe muss er nur antreten, wenn er sich in den nächsten vier Jahren noch einmal etwas zuschulden kommen lässt. Ein Tätigkeitsverbot, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, blieb aus.

Nun ‒ wer bezahlts? Im Falle des betrügerischen Sahmed Ameti die verschiedenen Gläubiger: Eine Krankenkasse, ein Unfallversicherer, ein Möbelhaus. Und schlussendlich zu einem guten Teil ‒ genau wie im Fall IPW ‒ der Staat.

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Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

Kiino Schoch

Kiino kommt nicht nur aus Winterthur, sondern auch aus der Talentschmiede des ZHAW-Studiengangs Kommunikation. Ihr erster Text im Kulturmagazin Coucou war ein Wurf. Umso schöner, entschied sie sich für ein viermonatiges Praktikum bei WNTI.

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