Mehr als Glitzer und Klischee

Hartes Training, Matten und Strukturprobleme: Annika Heiniger erlebte im Cheerleading in Winterthur alles, was der Sport zu bieten hat. Sei es als Athletin, Trainerin oder nun als Vorständin, in der sie aufzeigen will, dass der Sport längst mehr ist als Glitzer und Klischee.

CU2A0466
Training in der Turnhalle der Maurerschule. (Bild: Christopher Kurz) (Bild: Schwarzmann Fotografie)

In der Turnhalle der Maurerschule in Winterthur-Töss riecht es nach desinfizierten Böden und Turnmatten. Ein Pfiff, ein dumpfer Aufprall auf der Matte. Annika Heiniger steht am Mattenrand. Zopf streng gebunden, Stimme ruhig, aber bestimmt. Auf dem Rücken der schwarzen Trainingsjacke prangen drei glitzernde Diamanten. Ein kurzes Nicken und die rund dreissig Athletinnen des Senior-Cheerleading-Teams «Diamonds» bringen sich in Position. Sobald die ersten von ihnen mehrere Meter in die Luft gestemmt werden, wird klar: Das hier hat wenig mit dem Hollywood-Klischee von Cheerleading zu tun. Statt um Pompons und Tänze geht es um Präzision und Körperkraft.

Die 29-Jährige leitet das Training mit ruhiger Autorität. Dreimal pro Woche steht sie auf der Matte, organisiert Abläufe, korrigiert Bewegungen, feuert an. Neben dem Training kümmert sie sich als Sportvorständin der Warriors Cheerleader um einen der erfolgreichsten Cheerleading-Clubs Europas.

Zwei Stunden vor Trainingsbeginn sitzt die gebürtige Winterthurerin vor einer Tasse Tee in einem Café nahe der Turnhalle. Die Mediamatikerin zählt zu den prägenden Figuren des Schweizer Cheerleadings. Sie gewann mehrere Schweizer Meistertitel als Athletin und Coach, gewann Europameisterschaften mit dem Verein und startete zweimal bei den Weltmeisterschaften in den USA. «Wenn ich das alles höre, werde ich glatt rot», sagt sie lachend.

Ihre Laufbahn begann 2005, inspiriert von einer Zeichentrickfigur, so Heiniger: «Ich fand Kim Possible immer sehr cool.» Eine Schülerin, die Cheerleaderin und Geheimagentin zugleich war, faszinierte sie. Als sie im Kunstturn-Training vom Cheerleading-Team in Winterthur hörte, war klar: Das will ich probieren. Zwanzig Jahre später ist sie eines der Gesichter des Clubs.

CU2A0686
Die gebürtige Winterthurerin Annika Heiniger begegnet als Vorstand Sport der Warriors Cheerleader von Turniersiegen zu Sexualisierung eine Menge. (Bild: Christopher Kurz) (Bild: Schwarzmann Fotografie)

Damals war Cheerleading noch eine Teilabteilung der ansässigen Footballmannschaft, der Winterthur Warriors am Deutweg. «Wir hatten nicht einmal ein Jugendteam», erinnert sich Heiniger. Organisatorisch hing das Cheerleading an der Football-Struktur mit sämtlichen Vor- und Nachteilen: «Wir merkten, dass es einfach zwei komplett unterschiedliche Sportarten sind, auch administrativ.»

Was im Alltag harmlos klang, zeigte sich oft in kleinen Dingen. «Manchmal mussten wir wegen simplen Sachen, etwa T-Shirts oder Material, bei den Footballern anfragen», erzählt sie und führte aus: «Da wurde uns klar: Wir wollen unsere eigenen Entscheidungen treffen.» 

2019 kam die Trennung: Die Cheerleader lösten sich von den Warriors und gründeten einen eigenen Verein – mit Heiniger als Vorstandsmitglied Sport. Ganz ohne Hintergedanken war der Schritt allerdings nicht: «Damit Cheerleading in der Schweiz von Swiss Olympic anerkannt wurde, brauchte es eine gewisse Anzahl eigenständiger Vereine», erklärt Heiniger. «Da wollten wir unseren Beitrag leisten.» Heute zählt der Club rund zweihundert Mitglieder, die meisten davon Kinder. Die Nachfrage ist so gross, dass sie 2024 erstmals eine Warteliste einführen mussten.

In Winterthur betreiben die Warriors «Competitive Cheerleading» – akrobatische Pyramiden, Würfe, Sprünge, die mehr an Leichtathletik erinnern als an Tanz. Es ist ein Hochleistungssport, der Kraft, Technik und Vertrauen verlangt. Verletzungen gehören dazu: «Gebrochene Nase, ausgeschlagene Zähne, blaue Augen – das passiert halt. Wie bei jeder Kontaktsportart.»

Wenn Heiniger von ihrer schlimmsten Verletzung erzählt, fasst sie sich an den Nacken und erzählt, als wäre es eine Randnotiz: «Ich hatte mir im Nacken einen Wirbel angerissen.» Früher sei vieles improvisiert gewesen, heute lege man mehr Wert auf Sicherheit und Qualität. Der Verein bilde Coaches weiter und arbeite mit Strukturen, die dem Spitzensport nahekommen.

Heiniger_Bild_Portrait (1)

«Wir merken schon, welches Körperbild gerade ‹in› ist und welches nicht.»

Annika Heiniger, Trainerin Winterthur Warriors Diamonds Cheerleader

In vielen Köpfen ist Cheerleading noch immer Spielfeld-Tanz mit kurzen Outfits und Pompons. Heiniger kennt diese Klischees nur zu gut. Sie verdreht die Augen, nippt am Tee und lehnt sich zurück. «Ich probiere dann gar nicht mehr, das zu erklären. Wenn jemand das belächeln will, soll er», sagt sie und führt aus, «Aber ehrlich gesagt finde ich’s gruselig, wenn Erwachsene bei einem Sport, in dem 150 Kinder mitmachen, sofort an Sexualisierung denken. Da frage ich mich: ‹Was stimmt in deinem Kopf eigentlich nicht?›»

Man merkt schnell, welche Passion sie für ihren Sport hat. Beim Thema Körperbild wird ihr Ton aber ernst: «Wir merken schon, welches Körperbild gerade ‹in› ist und welches nicht.» Mitte der 2010er-Jahre sei es «fit» gewesen, heute rücke «skinny» wieder in den Vordergrund. «Die Überlegung, dass leichter gleich besser ist, ist einfach falsch», so sie.

Seit ihrem Beginn im Cheerleading habe sie immer wieder erlebt, dass junge Athletinnen Essstörungen entwickelten – ein Thema, das sie nicht loslässt. «Wir hatten schon Kinder, bei denen wir gemerkt haben: Da stimmt etwas nicht. Dann suchen wir das Gespräch mit den Eltern.» Alle zwei Jahre lädt der Verein Fachpersonen ein, die über Ernährung und Körperwahrnehmung sprechen. Heiniger sagt: «Wir reden offen darüber. Es ist wahrscheinlich ein Sport, der das mehr anzieht.»

CU2A0430
Längst ist aus dem Cheerleading ein eigener Sport geworden. (Bild: Christopher Kurz) (Bild: Schwarzmann Fotografie)

Der Sport wächst und damit der organisatorische Aufwand. «Bei uns läuft fast alles ehrenamtlich – vom Vorstand bis zu den Coaches», sagt Heiniger. «Wir zahlen vieles selbst, kümmern uns um alles – da bleibt kaum Ruhe, aber viel Herzblut.»

Doch die ehrenamtliche Arbeit zeigt Erfolge. Vor vier Jahren erkannte der Olympische Verband (IOC) den Sport an. Eine Entwicklung, welche sie als Chance und Herausforderung sieht: «Mehr Druck, mehr Professionalität, mehr Richtlinien für die Ehrenamtlichen», erinnert sich Heiniger. Für sie ist klar: Der Sport steht damit an einem Wendepunkt – zwischen Glitzer und Gewicht, zwischen Show und Spitzensport.

Das Training ist vorbei. Draussen dämmert es über den Dächern von Töss, während in der Halle das Licht erlischt. Die letzten Athletinnen räumen Matten weg, sammeln Trinkflaschen ein. Heiniger steht noch immer in der Halle, spricht mit einer Co-Trainerin, diskutiert über eine Übung. Erst als alle gegangen sind, löscht sie das Licht.

Wie würden ihre Teamkolleginnen ihre Trainerin beschreiben? Worte wie «ehrgeizig», «inspirierend» und «leidenschaftlich» fallen. Worte, die nach einer Person klingen, die noch lange nicht fertig ist, etwas zu bewegen.

Lenard Baum arbeitet als freier Journalist mit Fokus auf Sportthemen. Aufgewachsen in Seen, hat er seine Wurzeln im «grossen Nachbarskanton». Dennoch führen ihn seine Wege immer wieder nach Winterthur – besonders gern auf die Schützenwiese.

Baum_Autorenbild

Lenard Baum arbeitet als freier Journalist mit Fokus auf Sportthemen. Aufgewachsen in Seen, hat er seine Wurzeln im «grossen Nachbarskanton». Dennoch führen ihn seine Wege immer wieder nach Winterthur – besonders gern auf die Schützenwiese.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare