Machs gut mit deinen Nachbarn

«Klar bekommt man mit, was die Nachbarn so tun, aber es interessiert mich nicht weiter.» Diese Aussage würde fast die Hälfte der Schweizer Wohnbevölkerung unterschreiben. Dagegen setzen sich Quartiervereine und andere Organisationen am «Tag der Nachbarschaft» ein.

47 Prozent der Nachbar:innen gehören laut einer Studie zu den «Distanzierten», also einer Gruppe, die gerne unter sich bleibt.

Die andere Gruppe – von den Wissenschaftler:innen «Inspirationssucherinnen» und «Beziehungspfleger» genannt – trafen  sich gestern zur «längsten Brunch-Tafel, die Winti je gesehen hat». Rund 150 Personen hatten sich zu dem Event angemeldet, den das Kollektiv «Stadtlokt» passend zum Tag der Nachbarschaft organisiert hatte.

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Mitbringen: Stuhl, Essbesteck und etwas fürs Buffet. (Bild: Tizian Schöni)

Die Mitorganisatorin Claudia Bundi setzt sich in der Ernst-Jung-Gasse mit einem Glas Weisswein, etwas Couscous-Salat und einem Stück Fladenbrot an den Tisch. «Wir haben alle Wetter-Apps gecheckt, überall hiess es, es ziehe vorbei», sagt sie. Nun trägt sie trotzdem Regenjacke, ein leichter Schauer zieht über die Brunch-Gäste hinweg. Doch das stört an diesem Sonntagmorgen niemand. Viel zu verlockend sind die Zöpfe, Käseplatten und Fruchtsalate, die sich in so grosser Zahl auf den Tischen stapeln, dass es kaum mehr Platz für den selbst mitgebrachten Essteller hat.

Und noch etwas hält die Menschen davon ab, an diesem Regentag einfach in ihrer Wohnung zu bleiben. Jede vierte Stadtbewohner:in wünscht sich mehr Kontakt mit den Nachbar:innen. Auch das ist ein Resultat der Studie, die das  Gottlieb Duttweiler-Instituts 2022 in Auftrag gegeben hat.

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Von New York an die Ernst-Jung-Gasse. Claudia Bundi wohnt seit drei Jahren im Quartier. (Bild: Tizian Schöni)

«Wir waren bisher eigentlich eher Nomaden», sagt Claudia Bundi. Drei Jahre wohnt sie mit ihrer Familie an der Ernst-Jung-Gasse, «so lang wie noch nirgends sonst». Frühere Stationen waren Zürich und New York. Als sie sich das letzte Mal überlegt hätten, umzuziehen, habe ihr Mann gleich nach Wohnungen in Buenos Aires oder Medellín gegoogelt, erzählt sie.

Schlussendlich sind sie in Winti geblieben und in der Lokstadt gelandet. «Hier fühlt man sich schnell zu Hause – es ist wie ein urbanes Dorf. Auch weil es so viele engagierte Menschen gibt, die gute Nachbarschaft schätzen und sich auch gemeinsam und kreativ dafür einsetzen. Da schliesse ich mich gerne an.» Was im Quartier leider noch fehle, sei eine gemütliche Café-Bar. Da seien paar von ihnen aber schon dran.

Seit zwei Jahren sind das Gemeinschaftsbüro Orbit, eine Gruppe der Gesewo-Siedlung «Ein Viertel», die Dialogplatzkonzerte und der Quartierverein Tössfeld-Brühlberg im Kollektiv «Stadtlokt» zusammengeschlossen. Auf dieses gemeinsame Engagement geht auch die Brunch-Tavolata zurück.

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Kurz wurde es regnerisch. Vom Brunchen hielt das an der Ernst-Jung-Gasse niemanden ab. (Bild: zvg)

Was nachbarschaftliche Beziehungen angeht, können wir in der Deutschschweiz noch dazulernen. In der GDI-Studie schränken wir nur schon bei der Frage, wen wir überhaupt zu unserer Nachbarschaft zählen, deutlich ein. Wer in derselben Strasse wohnt, gilt nur noch vereinzelt als Nachbar, während im Tessin und der Romandie sogar Personen aus dem gleichen Quartier noch als nahe Mitmenschen gezählt werden.

Kein Wunder also haben wir den Tag der Nachbarschaft importiert. Entstanden ist der Anlass 1999 in Paris, 2004 fand er den Weg nach Genf. Drei Jahre später wurde er auf Initiative der Nachbarschaftshilfe Zürich hin auch in der Deutschschweiz eingeführt.

In Winterthur fanden zehn kleinere und grössere Veranstaltungen zum Tag der Nachbarschaft statt. Das Museum Schaffen auf dem Lagerplatz organisierte ein Pubquiz. Es habe viel positives Feedback gegeben, das Format soll nun ab Herbst regelmässig stattfinden, schreibt Christina Lolos vom Museum.

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Was ist das Nationalgericht von Kanada? Wie heisst der Winterthurer Stapi? Welche Frauschaft gewann den Axa Womens Cup 2025? Am Pubquiz von Museum Schaffen wurde es knifflig. (Bild: Museum Schaffen)

Die Stadt unterstützte die verschiedenen Organisator:innen mit einem Wettbewerb. Dem Kollektiv «Stadtlokt» wurden die Gebühren erlassen, der Quartierverein Zinzikon gewann eine Lauschig-Lesung, und in Oberi hielt Stadtpräsident Mike Künzle eine Festrede.

Etwas, worauf die Brunch-Fans in der Lokstadt nicht neidisch sein müssen. Sie wurden vom Zürcher Regierungspräsidenten höchstpersönlich besucht. Martin Neukom (Grüne) kam allerdings nicht für eine Festrede – er ist ganz einfach: Nachbar.

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Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

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