Lebensfragen, glühende Konfirmanden und eine brennende Krippe

Thomas Plaz war 27 Jahre lang Pfarrer in der Stadtkirche Winterthur, im Juni hat er seinen Talar abgelegt. Im Interview mit Maria spricht er über seine Amtszeit, besondere Erlebnisse und darüber, wie nah sich Kirche und Kultur stehen könnten – wäre erstere nicht zur Aussenseiterin geworden.

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Thomas Plaz auf seiner Terrasse mit Blick auf den gegenüberliegenden Goldenberg. Er bleibt Winti erhalten und freut sich darauf, mehr Zeit als Gast in der Stadtkirche, auf dem Eschenberg und in den Kunstmuseen zu verbringen. (Bild: Maria Wyler)

Thomas Plaz, fast 40 Jahre warst du Pfarrer. Wie hat sich die Bedeutung der Kirche für die Gesellschaft verändert?

Thomas Plaz: Die Kirche ist aus der selbstverständlichen Partnerschaft mit vielen staatlichen Aufgaben herausgedrängt worden – das zeigt sich zum Beispiel am Religionsunterricht in der Oberstufe. Wir dürfen die kulturelle Identität nicht mehr aktiv mitgestalten. Die Schule muss religiös neutral sein und die Kirche ist das nicht. Meiner Meinung nach ist das eine Illusion. Jede Religionslehrperson bringt ihre eigene Prägung mit und das ist auch nicht schlecht. Wichtig ist es, reflektiert zu sein. In einer Gesellschaft, die nicht kirchlich sozialisiert ist, finden keine Begegnungen mit Pfarrpersonen statt, was dazu führt, dass der Beruf unzugänglich und nicht auf dem Radar der Studierenden ist. Das hat zur Folge, dass es immer weniger Theolog:innen gibt.

Andere Bereiche stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Etwa die Klassik, die dir auch sehr am Herzen liegt …

In den späten Achtzigern war die Kirche noch wichtiger Bestandteil der Kultur. Heute sind viele Kulturschaffende kirchenfern. Es wird beispielsweise nicht zur Kenntnis genommen, dass man bei uns jeden Sonntag kostenlos in den Genuss von hochstehender klassischer Musik kommt. In Winterthur stehen zum Teil hunderte Menschen an für Konzerte, die aber nie im Kulturgeschehen besprochen werden. Das zeigt, dass wir als Kirche ein Stück weit abgeschoben wurden. Zum Teil vielleicht selbstverschuldet, ich weiss es nicht. Die Kultur ist selbst in einer permanenten Rechtfertigungssituation. Es fehlt das jüngere Publikum. Wir sind an den gleichen Herausforderungen dran, aber nicht miteinander, sondern nebeneinander.

Wäre eine Person, die seit zwanzig Jahren keinen Gottesdienst mehr besucht hat, überrascht, wenn sie dies heute in der Stadtkirche täte? 

Die Gottesdienste sind nicht mehr so sehr Informations- und Lehrveranstaltungen. Man versucht, den biblischen Text mit Lebensfragen zu verbinden, die Relevanz haben für ein «breites Publikum». Die Predigten sind kürzer und konzentrierter geworden, es fliesst viel Zeit in die Vorbereitung der prägnanten Auslegung des Bibeltextes. Die Gesamtdauer des Gottesdienstes ist gleich geblieben, Musik und Liturgie haben heute mehr Platz. In der Stadtkirche dient die Kirchenmusik nicht nur als Intermezzo zwischen den Texten, sie ist ein wichtiger Bestandteil, der Zeit beanspruchen darf. Winterthur ist eine musikalische Stadt und die Leute schätzen das sehr.

Du hast den Rückzug der Kirche aus den Schulen angesprochen. Es fehlt an jungen Menschen. Lassen sich noch welche konfirmieren?

Als ich vor 37 Jahren angefangen habe, wurden viele dazu verknurrt. Die kommen heute gar nicht mehr. Ich habe Freude am Konfirmationsunterricht – es gibt mehr Begegnung auf Augenhöhe, die Jugendlichen suchen das Gespräch mit jemandem von aussen, einer Person, die nicht bewertet, die nichts erwartet. Sie kommen mit Themen, die in der Schule keinen Platz haben. Der Unterricht hat eine ganz andere Qualität als früher. Gleiches gilt übrigens auch für die Gottesdienstbesuchenden: Es kommt niemand mehr, weil es Tradition ist oder weil es erwartet wird. Der soziale Druck ist komplett weg. Wer kommt, ist freiwillig hier. Das sind positive Veränderungen.

«Wenn nur noch die Likes zählen, müssen die Leute immer aufjauchzen oder aufschreien können. Das bräuchten wir gar nicht. Das Leben ist kompliziert und darf doch auch so bleiben.»

Was stimmt dich nachdenklich?

Negativ ist natürlich der enorme Mitgliederschwund. Mit Aktivismus Gegensteuer zu geben, bringt nichts. Im Gegenteil. Was ich nicht nur in der Kirche mit Sorge beobachte, ist, dass mit der Medialisierung die grelle Verpackung immer wichtiger wird als der Inhalt. Als Kirche müsste man von der Ideologie her eigentlich dagegen halten. Wenn nur noch die Likes zählen, müssen die Leute immer aufjauchzen oder aufschreien können. Das bräuchten wir gar nicht. Das Leben ist kompliziert und darf doch auch so bleiben.

Religion wird individueller. Wird die Kirche dadurch irrelevant? Oder kann sie ein Ort für Individualist:innen sein?

Meines Erachtens erlauben viele reformierte Gottesdienste genau das, indem sie nicht belehren, nicht versuchen, irgendwelche Appelle weiterzugeben, nicht behelligen, nicht erziehen. Sie schaffen einen offenen Raum, um zu sich selbst zurückzufinden. Ich bezeichne den Glauben als Weg, der immer lebensverbundener wird. Dogmatische Aussagen finde ich interessant und diskutiere auch gerne darüber. Glaube heisst aber Vertrauen, es muss daraus ein zutrauliches Verhältnis zum Leben entstehen. Und das entscheidet sich nicht in der Dogmatik, sondern im Verschmelzen dieser biblischen Impulse mit dem eigenen Leben.

Die Stadtkirche ist von 9 bis 17 Uhr offen für alle und es finden auch Veranstaltungen darin statt, die nicht kirchlich sind. Ist sie noch ein heiliger Ort, der in den Menschen etwas auslöst  – egal ob gläubig oder nicht? 

Ich glaube, unsere Gebäude sind die stärkste nonverbale Kommunikation, die wir als Kirche haben. Es gibt immer noch viele, die einfach mal reinsitzen. Zum Beispiel während des Marktes. Oder neulich, als das Albanifest im Gange war und die Kirche offen, kamen einige, um die Ruhe zu geniessen. 

Wurde diese Offenheit auch schon zum Verhängnis?

Einmal wurde die Krippe angezündet von einem Jugendlichen. Der hatte einfach einen Floh im Kopf. Der Brand war klein, aber der Schaden gross und die Kosten hoch. Es musste alles gereinigt werden, von den denkmalgeschützten Malereien bis zu den Augusto Giacometti-Fenstern, ein riesiger Aufwand. Aber das kann man halt nicht ausschliessen (lacht). Ein anderes Mal wurde grad nach der Revision eine Colaflasche über den Spieltisch der Orgel ausgeleert und sie musste nochmals ganz auseinandergenommen und gereinigt werden. 

Magst du mir eine Geschichte erzählen, die dir besonders in Erinnerung bleiben wird?

Eines der grössten Geschenke, die man als Pfarrperson bekommen kann, ist das Vertrauen von Menschen, die dich eigentlich nicht gut kennen. Wenn dir jemand im zweiten Gespräch etwas anvertraut, was nicht mal die Familie der Person weiss, ist das eine grosse Würdigung und gleichzeitig eine unermessliche Verantwortung. Was mir auch bleiben wird, sind die Konfirmandenreisen. Zu beobachten, wie eine Gruppe Jugendlicher aus unterschiedlichen Schulhäusern zusammenwächst. Ein besonderes Erlebnis war, als sich zwei Jugendliche entschieden, sich taufen zu lassen. In einem Lager gab es die Möglichkeit, sich mit Menschen aus der ehemaligen DDR auszutauschen, die sich damals zwischen Konfirmation und Karriere entscheiden mussten. Diese Gespräche hatten etwas ausgelöst.

WNTI-Portrait-Maria-Wyler

Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.

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