ADHS: Das lange Warten auf die Diagnose
AD(H)S oder nicht? Das muss das Sozialpädiatrische Zentrum am Kantonsspital Winterthur immer öfters abklären. Das hänge aber nicht mit einem tatsächlichen Anstieg der Fälle zusammen, sagt Chefarzt Kurt Albermann. Im zweiten Artikel auf dieser Seite liest du von Betroffenen und ihren Bewältigungsstrategien.
Als ich Kind war – das war in den Neunzigern – kannte ich eine Handvoll Jungs, von denen ich wusste, dass sie ADHS hatten. Alle waren sie tendenziell laut, frech und konnten nicht stillsitzen. Sie waren auch kreativ, ideenreich, gesellig und witzig. ADHS steht für «Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung». Heute kenne ich viele betroffene Kinder. Sie sind im Charakter und Verhalten so unterschiedlich, dass ich nicht versuchen möchte, einen gemeinsamen Nenner auszumachen.
AD(H)S wird als neurobiologische Entwicklungsstörung klassifiziert. So nennt man Beeinträchtigungen, die die Entwicklung des Gehirns und des Nervensystems betreffen. Sie treten in der Regel in der frühen Kindheit auf und sind oft genetisch bedingt. Die Störungen wirken sich auf verschiedene Bereiche aus, wie die Wahrnehmung, das Lernen, die Kommunikation oder das Verhalten. Im Allgemeingebrauch ist das H bei AD(H)S in Klammern gesetzt, um die verschiedenen Ausprägungen zu berücksichtigen. Die Komponente Hyperaktivität ist nicht bei allen Betroffenen vorhanden. Ein Grossteil der Abklärungen von Kindern in und um Winterthur werden im Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) am KSW durchgeführt. Über die genauen Zahlen gibt das KSW keine Auskunft – Chefarzt Kurt Albermann und sein Team bestätigen aber, dass die Anmeldungen in den letzten Jahren zugenommen haben. Gründe hierfür seien unter anderem Verunsicherung bei Eltern, die Sensibilisierung von Lehrpersonen und limitierte Ressourcen, um unterschiedlichen Verhaltensweisen im Schulalltag zu begegnen. Die Zunahme sei nicht gleichbedeutend mit einem tatsächlichen Anstieg der Fälle, sondern Ausdruck eines veränderten Umgangs mit kindlichen Auffälligkeiten, so Albermann. Die Initiative gehe teils von den Eltern, teils von der Schule aus, die Anmeldung am SPZ erfolge über die Kinder- und Hausärzt:innen.
Aufgrund begrenzter Ressourcen und langer Wartelisten betrachten die Fachpersonen am SPZ jede Anmeldung kritisch. Die Komplexität der Diagnosen verlangt Zeit, Erfahrung und differenziertes Vorgehen. Die Auswertung und die Bedeutung der Ergebnisse für den Alltag werden mit den Eltern und nach Möglichkeit auch mit den Zuweisenden besprochen. Dank gemeinsamem Festlegen der nächsten Schritte sei die Akzeptanz in der Regel hoch, sagt der Chefarzt. Melanie (38) aus Winterthur erzählt, sie hätten sich nach der Überweisung durch den Kinderarzt ans SPZ ein Jahr gedulden müssen.
Albermann erklärt: «Die Wartezeiten hängen von der medizinischen Dringlichkeit ab. Traumatisierte oder hochgefährdete Kinder werden priorisiert. Bei Verdacht auf neurokognitive Störungen wie AD(H)S beträgt die Wartezeit derzeit mehr als zwölf Monate.» Für viele Eltern ist die Ungewissheit belastend, sie wollen helfen. Für einen Nachteilsausgleich ist an der Volksschule ein aktuelles Gutachten einer fachkundigen Instanz erforderlich. Der Chefarzt weist darauf hin, dass schulische Massnahmen grundsätzlich auch ohne klinisch-medizinische Diagnostik erfolgen können.
«Zeit allein hilft nicht immer – entscheidend ist eine gute Begleitung.»
Kurt Albermann
Nicht jedes Kind, das Verhaltensauffälligkeiten zeigt, benötigt eine umfassende Untersuchung. Vielen kann bereits durch schulische Massnahmen und Unterstützung im Familienalltag geholfen werden. Die Fachpersonen bestätigen, dass Kinder in einigen Fällen lediglich mehr Zeit zur Entwicklung bräuchten. Frühe Intervention könne aber auch verhindern, dass sich Probleme verfestigen. Albermanns Fazit: «Zeit allein hilft nicht immer – entscheidend ist eine gute Begleitung.»
Die vermeintliche Übersensibilisierung in Schulen und Familien hat laut dem Team mit mangelndem Wissen und Überinformation durch das Internet und die Medien zu tun. In einer Leistungsgesellschaft mit hohen kognitiven Anforderungen und Berufen, in denen vorwiegend am Bildschirm gearbeitet wird, sind Fähigkeiten wie Stillsitzen und eine hohe Daueraufmerksamkeit gefordert. Für manche AD(H)S-Betroffene stellen diese Anforderungen im schulischen Kontext und im Beruf eine echte Herausforderung dar. Chantal (42) aus Seen sagt: «Meine Sorge ist, dass mein Kind anfängt, seinen Wert über seine Noten zu definieren». Sie wisse gar nicht recht, ob sie von einer Abklärung überzeugt sei. Sie würden einfach dem Kind zuliebe nichts verpassen wollen. Leo (12) erzählt: «Ich bin gut im Sport und interessiere mich für die Natur. Ich habe aber das Gefühl, es sei nur wichtig, ob ich gut in Mathe bin. Da habe ich Mühe, mich zu konzentrieren.» Sein Lehrer fügt an: «Es wird schon viel von den Kindern erwartet und es wird nicht besser, wenn sie älter werden.»
David (35) erzählt: «Schon in der Schulzeit hatte ich das Gefühl, irgendwie nicht dazuzugehören. Während andere scheinbar mühelos Hausaufgaben machten und im Unterricht konzentriert mitarbeiteten, fiel es mir schwer. Ausser das Thema packte mich. Die handwerkliche Ausbildung war ein Wendepunkt. Zum ersten Mal machte mir das Lernen Spass, weil es für mich Sinn ergab. Mit 30 bekam ich die Diagnose, die vieles erklärte. Das Verstehen und die Annahme meiner Andersartigkeit und die gezielte Einnahme von Ritalin helfen mir heute, im Arbeitsalltag konzentriert zu bleiben und nicht in einem Wirrwarr aus Gedanken und Reizen zu versinken.»
Vielleicht hast du dich eben auch gefragt, ob mit Diagnosen und Medikamenten leben unser neues «Normal» wird. Und ob die Gefahr besteht, dass Betroffene irgendwann nicht mehr ernst genommen werden. In meinem nächsten Brief gehe ich noch einmal in das Thema rein und wage mit den Beteiligten einen Blick in die Zukunft.
ADHS: So geht es Betroffenen
Bis zu einem Jahr warten Kinder in Winterthur auf eine AD(H)S-Diagnose. Wenn sie einmal gestellt ist, geht jede:r unterschiedlich damit um. Wir haben bei Betroffenen nachgefragt.
Hast du schon einmal versucht, einem Kind die neurobiologische Entwicklungsstörung zu erklären? Gar nicht so einfach. Vor allem sieht sie bei allen Betroffenen etwas anders aus. Ich habe mir von Elea (11) ihre Version erklären lassen:
«ADHS ist, wenn du dich nicht gut konzentrieren kannst und wenn du Sachen aufschiebst, die wichtig sind. Es fühlt sich hektisch und stürmisch an im Kopf. Eigentlich so, als wären überall Fenster offen und als wäre alles gleichzeitig. Als würde eine Bombe in meiner Umgebung explodieren. Aber gleichzeitig ist ADHS auch eine Superkraft. Sie lässt mich schnell denken und ich habe viel Energie.»
Laufen wir Gefahr, eine Gesellschaft diagnostizierter Medikamentenschlucker:innen zu werden? Kurt Albermann, Chefarzt am Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) im KSW, verneint. Zwar räumt er ein, dass die Gefahr bestehe, die Belastung von Kindern mit schweren Ausprägungen zu bagatellisieren, sagt aber auch: «Es ist nicht das Ziel, für alles eine Diagnose zu vergeben.» Gerade bei jüngeren Kindern zeige sich oft, dass Auffälligkeiten entwicklungsbedingt oder situativ seien. Es sei wichtig, individuelle Stärken und Schwächen wahrzunehmen und frühzeitig zu reagieren, wenn ein Kind zu Hause, in der Schule oder im Freundeskreis nicht mehr klarkomme. Das Team am SPZ begrüsst, dass Eltern sich melden und mit ihren Unsicherheiten kommen. Es dürfe aber nicht ablenken von pädagogischen Rahmenbedingungen und Leitlinien, die es brauche – und von den Überforderungen des Alltags und der Diskussion um die intensive Nutzung von Medien.
«Mein Sohn hat schlussendlich keine Diagnose erhalten. Ich bin erleichtert und gleichzeitig verunsichert darüber, wie es weitergehen soll.»
Melanie (38), Mutter
Bei weitem nicht alle Kinder mit AD(H)S benötigen eine Medikation. Die Entscheidung basiert auf dem Schweregrad der Symptome, der Beeinträchtigung im Alltag und auf dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes. Sie ist auch abhängig vom Leidensdruck und von der Wirkung anderer Massnahmen. Melanie (38) aus Winti sagt: «Mein Sohn hat schlussendlich keine Diagnose erhalten. Ich bin erleichtert und gleichzeitig verunsichert darüber, wie es weitergehen soll.» Auch für die Abklärenden bedeutet keine Diagnose nicht, dass es keine Probleme gebe. Die Fähigkeit von Kindern, Eltern, Umfeld und Schule, mit den Herausforderungen eines Kindes umzugehen, sei sehr unterschiedlich. Verstehen und Unterstützen zähle mehr als das Label.
Tendenziell schaut das SPZ-Team positiv in Zukunft. «Gleichzeitig wünschen wir uns zu diesen Themen mehr Wissen und Gelassenheit in der Gesellschaft und mehr Offenheit gegenüber der Prävention psychischer Erkrankungen. Darüber hinaus sollten niederschwellige Therapiemöglichkeiten ausgebaut und die Variabilität von Persönlichkeiten und Verhaltensweisen besser toleriert werden.» Es sei wichtig, den hohen Leistungsanspruch an Schulen und in unserer Gesellschaft zu hinterfragen, da sind sich alle einig.
Das SPZ steht sowohl bei einzelnen Fällen, als auch übergeordnet in regelmässigem Kontakt mit den Schulen, Schulpsychologischen Diensten und den Schulbehörden in Winterthur. Es setzt sich auf kantonaler Ebene mit anderen Fachpersonen dafür ein, ein sinnvoll abgestimmtes Vorgehen zu entwerfen. In Kürze erscheint ein Positionspapier, betreffend «Kinder mit Verhaltens- und Lernauffälligkeiten in der Schule». Es wurde von Kurt Albermann in Zusammenarbeit mit Institutionen des Bildungs- und Gesundheitswesens erstellt und beinhaltet Empfehlungen für die beteiligten Stellen, Verbände und Fachpersonen, sowie Schulen im Kanton Zürich.
Abklärungen können zum Teil auch direkt bei Kinder- und Hausärzt:innen oder Kinder- und Jugendpsycholog:innen durchgeführt werden. Ein paar Anlaufstellen, auf die Winterthur ausweichen kann, findest du hier. Wie versprochen, habe ich euch ein paar Tipps aus der Community zusammengetragen. Von Winti für Winti sozusagen.
Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.