Zweiter Generationenwechsel beim Figurentheater
Das Figurentheater in Winterthur erhält nach 25 Jahren eine neue Leitung. Diese aber bleibt, dank der Freude zum Hobby, in Familienhand
Prinzessin, Bösewicht, Polizist und König. Ich bin mit dem klassischen Kasperlitheater aufgewachsen. Unsere Kasperlifigur hatte eine eingetätschte Nase, weil der arme Kerl in jedem einzelnen Stück das Krokodil wortwörtlich in die Flucht schlagen musste. Immer die gleiche Geschichte, immer der gleiche Ablauf, immer die gleiche Moral. Erst in Winterthur habe ich entdeckt, wie vielfältig Figurentheater sein kann.
Im Waaghaus in der Marktgasse wurden einst alle in der Stadt gehandelten Waren gewogen. Seit 1971 ist dort das Figurentheater Winterthur zuhause. Leiterin des Theaters ist seit über 25 Jahren Ursula Bienz, deren Schwiegereltern das Figurenspiel in Winterthur etabliert hatten. Was 1960 als Hobby im Wohnzimmer und in der Werkstatt begann, wurde zum festen und wichtigen Bestandteil der Winterthurer Kulturszene – 2016 erhielt Ursula als Leiterin des Theaters und des Ensembles Figurentheater Winterthur vom Stadtrat den Winterthurer Kulturpreis. Seit sie ein Teenager war, ist das Figurentheater ihr zweites Zuhause, jetzt übernehmen ihre Töchter Hanna und Rea Bienz die künstlerische Leitung. Selbstverständlich ist das nicht. Das Theater ist nicht in dem Sinne ein Familienunternehmen und die Stelle ging nicht unter der Hand weg. Der Verein Figurentheater Winterthur betreibt das Theater. Das Haus gehört der Stadt, die Schwestern mussten sich regulär bewerben. Mit einem jährlichen Subventions-Beitrag wird der Betrieb von der Stadt Winterthur unterstützt, ergänzt durch einen Beitrag der Fachstelle Kultur, durch Mitgliederbeiträge, Sponsoren und Gönnerinnen.
Umso schöner für Ursula, dass das Ja der Töchter aus der Freude am Figurenspiel und nicht aus einem Pflichtgefühl herauskam. «Ihr müsst das imfall nicht», habe sie ihnen gesagt. Dass sie das Herzensprojekt schon so gut kennen, sei ein Vorteil, so Hanna. Auch wenn man spüren werde, dass ein neuer Wind weht, wollen sie Bewährtes nicht einfach über den Haufen werfen. Ihre Devise: Erst mal beobachten und verstehen, dann formen. Eine Nische zu bedienen biete viele Chancen. Sie ist Szenographin, Rea Theaterpädagogin. Beide spielen und wirken im Ensemble mit. Es sei gleichzeitig alles vertraut und doch irgendwie neu. «Wir möchten nicht einfach die Töchter von Ursula sein, sondern Hanna und Rea. Das ist eine der grossen Herausforderungen, wenn man in elterliche Fussstapfen tritt», so Hanna. Wer nach Konflikten beim Generationenwechsel sucht, wird nicht fündig. Das Wohlwollen ist auf beiden Seiten gross. «Unsere Mutter war schon immer gut darin, uns und was wir tun, so zu nehmen und sich dafür zu interessieren.» Rea bezeichnet die anstehende Veränderung als «Tradition mit frischem Wind». Durch ihre Persönlichkeiten werde automatisch Neues entstehen. Dadurch, dass sie im Theater gross geworden seien, werde die Seele weitergetragen.
Pro Saison gehen über 7000 Besuchende im kleinen Theatersaal im ersten Stock ein und aus. Neben Eigeninszenierungen des Ensembles Figurentheater Winterthur werden nationale und internationale Truppen für Gastspiele engagiert. Für jede Inszenierung werden eigens Figuren hergestellt und wird genau überlegt, was sie transportieren müssen. Die grössten Figuren sind lebensgross, die kleinsten um die 20 Zentimeter. Im Fundus steckt viel Material. Ab der kommenden Spielzeit teilen sich Mutter und Töchter die künstlerische Leitung und die Verantwortung. Das gebe ihnen Raum, sich in die Abläufe einzuarbeiten. Nach der Renovation des Waaghauses durch die Stadt werden sie Anfang 2027 die Leitung übernehmen.
Das Kulturangebot in Winterthur sei dichter und vielseitiger geworden, so Ursula. Es sei grossartig, was da alles laufe. Auf die Frage, wie man es in Zeiten von Digitalisierung und Reizüberflutung schafft, die Menschen aus den Häusern ins Theater zu locken, meint Rea: «Mit einem aktuellen, diversen und qualitativ hochstehenden Programm. Figuren können Grenzen sprengen.» Hanna fügt an: «Reale Begegnungen und das gemeinsame Erleben von magischen Momenten sind wertvolle Inseln.» Auch «digitale Cleverness» sei gefragt. Damit meinen die Schwestern, dass man die verschiedenen Kanäle clever nutzt. Rea ergänzt: «Im Theater werden alle Sinne direkt angesprochen. Erzähltempo und Komplexität sind langsamer, wir können einen anderen Fokus schaffen.» Um das Publikum müsse man sich immer kümmern, das komme nicht einfach. Die Beiden zählen auch auf die Treue des Stammpublikums. Viele Winterthurer Kinder machen im Waaghaus ihre ersten Theatererfahrungen. Zwei Drittel der rund 80 Vorstellungen pro Saison sind an ein junges Publikum gerichtet. Ab dem ersten August wird der neue Spielplan auf der Webseite aufgeschaltet.
Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.