Vom Kloster zum Tech-Cluster

Das ehemalige Rieter-Areal heisst heute Vitus-Areal. Und auch sonst hat sich auf dem Gebiet des ehemaligen Dominikanerinnenklosters viel getan.

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Noch ist es ruhig auf dem Areal und drumherum. Die parkähnliche Grünfläche mit Spazierweg der Töss entlang soll zur offenen Begegnungs- und Erholungsstätte werden. (Bild: Maria Wyler)

Vogelperspektive. Schwebend über Winterthur. Fliessendes Wasser, glückliche Menschen, emotionale Musik. Abendsonnenstrahlen fallen durch grosse Industriefenster. Glückseligkeit. Wir befinden uns in der Woche vor Pfingsten – allerdings ist das, was ich hier beschreibe, nicht die Niederkunft des Heiligen Geistes, sondern der Werbefilm des Vitus-Areals. So heisst neu das ehemalige Rieter-Areal in Töss und im weitesten Sinne hat es sogar etwas mit dem Heiligen Geist zu tun. Noch bevor Rieter sich an besagtem Ort niederliess, stand dort nämlich ein Frauenkloster, welches als Hochburg der Mystik galt. Aber fangen wir in der Gegenwart an. 

«Zeitzeugen der erfolgreichen industriellen Vergangenheit schlagen eine Brücke zu den zeitgenössischen Innovationsstätten» heisst es im Clip des Immobilienkonzerns Allreal, der auf der Startseite der Vitus-Areal-Homepage erscheint. Er enthält alle grossen Versprechen: Urbanität, Innovation, Vielfalt, Zukunft, Freiheit, Naturverbundenheit. Junge, gutaussehende Menschen in legeren Anzügen und Kopfhörer um den Hals schlendern durch die Gänge oder wandern in hipstrigem Flanell-Hemd und Beanie über grüne Wiesen. Eine Frau cruist lässig auf ihrem Velo übers Gelände. Roboterarme pflücken perfekte Kräuter und die Nahaufnahme eines Rennvelo-Lenkers schafft sofort eine emotionale Verbindung zu allen, die selbst ein solches Rad fahren. Hier waren Marketing-Profis am Werk. Ich habe das Gefühl, ich könnte auf dem Vitus-Areal leben, ohne dass es mir an irgendetwas fehlen würde.

1795 wurde die Fabrik des Spinnmaschinenherstellers Rieter gegründet. Das Tössmer Areal stand zu einem grossen Teil leer, nachdem zuletzt die Montage 2020 geschlossen worden war. Rieter verlegte seine Geschäftsbereiche sukzessive nach Indien und China. 2023 kaufte das Immobilienunternehmen Allreal dem Winterthurer Konzern das Grundstück an der Klosterstrasse für 96 Millonen Franken ab. Weiterhin im Besitz von Rieter ist der Rieter Campus, eine Fläche von über 30’000 Quadratmetern mit Arbeitsplätzen, Sitzungsräumen und Büros, und das Gebäude an der Klosterstrasse 32. Dort zieht im August die Schweizerische Textilfachschule mit 300 Studierenden und 60 Lernenden ein. 

Auf den verkauften 75’000 Quadratmetern entsteht jetzt  «ein dynamischer Ort für Unternehmen, Forschung & Bildung», wie es auf der Webseite von Allreal heisst. In einem Interview mit House of Winterthur erklärte Arealentwicklungsleiter bei Allreal, Thorsten Eberle, das Vitus-Areal werde langfristig als Tech-Cluster und Innovationscampus etabliert. Ersteres ist ein beliebter Marketing-Begriff und die Bezeichnung für einen Standort, an dem Produktionsprozesse geschaffen werden, die sich auf mehrere Teile der Wirtschaft auswirken. Also ein Ort für verschiedene, sich ergänzende Buden aus dem technischen Bereich, wenn man so will. Die Vision für das Areal sei ein offener, lebendiger Campus mit einem vielfältigen Branchenmix, so Eberle.

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Die Druckgrafik von Franz Hegi stammt aus dem Jahr 1820. Die Strasse, die über die Tössbrücke führte, galt als wichtige Verbindung zwischen Konstanz und Zürich. Zum Klosterbesitz gehörte von Anfang an die Mühle. (Bild: bildarchiv.winterthur.ch)

Kürzlich fanden auf dem Areal die Dreharbeiten zum Film «Hallo Betty» statt. Die Entstehungsgeschichte der Kunstfigur Betty Bossi kommt im November in die Kinos. Frauenpower ist nichts Neues auf dem Areal. 1233 gründete eine Gemeinschaft frommer Frauen das Dominikanerinnenkloster Töss. Wie Winterthur Glossar schreibt, gibt es eine Legende, die besagt, dass ein Wunder zur Gründung des Klosters geführt habe. 

Zeitweilig lebten rund 100 Nonnen im Kloster, welche sich vor allem in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts dem mystischen Gedankengut öffneten, einer religiösen Bewegung, die sich stark mit dem Leiden Jesu auseinandersetzt. Diese und weitere Informationen sind dem historischen Lexikon der Schweiz zu entnehmen. Die Blütezeit der Mystik war im Spätmittelalter vorbei, doch das Kloster Töss konnte sich wirtschaftlich weiterhin behaupten. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wurden die strikten Regeln aufgelockert. Ab 1514 durften die Ordensfrauen bequemere Kleidung tragen und in Notfällen das Kloster verlassen. Nach der Auflösung der Klöster im Kanton Zürich 1525 blieben die Klostergebäude bestehen. Die Kirche wurde zur reformierten Gemeindekirche Töss umfunktioniert. Die übrigen Gebäude standen nach einer Zwischennutzung lange leer, bis 1833 Rieter das Klostergelände erwarb und abriss.

WNTI-Portrait-Maria-Wyler

Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.

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