SVP lanciert Wohnungsinitiative ‒ die Musikfestwochen haben das Nachsehen
Der Platz ist knapp. Nicht nur, wenn die Polizei den Neumarkt für den Parteitag der SVP abriegelt. Auch in Winterthurer Wohnungen.
Anfang Juni standen in Winterthur 104 Wohnungen leer ‒ von insgesamt fast 59’000 auf Stadtgebiet. Das sind 0.18 Prozent ‒ zwar ein leichter Anstieg, wie die Stadt gestern in einer Medienmitteilung schrieb. Doch die Leerwohnungsziffer «bleibt weiterhin auf tiefem Niveau».
Vielleicht deshalb hatte sich die kantonale SVP den Neumarkt mitten in der Altstadt zur Ausrichtung ihres Sonderparteitags ausgesucht, um die kantonale Initiative «Recht auf Heimat ‒ Wohnige für eusi Lüüt» zu lancieren. 200 Mitglieder fanden sich am Mittwochabend im Festzelt ein. Drinnen spielte Ländler, draussen brannten Passant:innen an Polizeigittern an. Der Platz war abgeriegelt. Die Sperrung hatte zur Folge, dass die Musikfestwochen den Zugang zum Gelände von der Metzgasse her schliessen mussten.
«Die letzten zwei Tage waren wir konstant dran», sagt Lotta Widmer, Mitglied der MFW-Geschäftsleitung. Dass der SVP-Anlass und eine Gegendemo parallel stattfinden, hätten sie über Social Media erfahren. «Für uns ist der Neumarkt die Hauptverkehrsachse», sagt Widmer. Bandtransporte und Logistik, die normalerweise über diesen Zugang laufen, mussten umdisponiert werden. «Wir hätten es begrüsst, wenn sich die Verwaltungspolizei früher mit uns abgesprochen hätte». Schon am Nachmittag habe der Lesesommer mit über tausend Kindern in der Steinberggasse stattgefunden. Um das Gelände zu verlassen, mussten die Besuchenden einen Umweg in Kauf nehmen. Eine WNTI-Leserin, die an den MFW dabei war, fragte diese Redaktion etwas zugespitzt: «Werden Veranstaltungsbewilligungen nach Gutdünken oder nach Regeln ausgesprochen?»
Auf Anfrage sagt eine Sprecherin der Stadtpolizei, das Gesuch sei bereits im Frühling bewilligt worden. Damals habe man es als unverhältnismässig betrachtet, die Veranstaltung nicht zu bewilligen. Nach der Ankündigung der linken Störaktionen habe man der SVP einen Tag vor der Veranstaltung den Teuchelweiherplatz als Alternative angeboten.
Das bestätigt auch Marco Calzimiglia, Parteisekretär der kantonalen SVP. Aber so kurz vorher habe man den Anlass nicht verschieben können oder wollen, zumal die Verursacher des Polizeiaufgebots die linken Gruppierungen seien, nicht die SVP.
Zurück im Festzelt sprach die Regierungsrätin Nathalie Rickli ihr Grusswort. Die Winterthurerin versicherte den rund 200 anwesenden Mitgliedern, es sei eine sehr lebenswerte Stadt ‒ «normalerweise ohne diesen Lärm». Und auch die anderen Redner rieben sich an den 80 Gegendemonstrant:innen. Domenik Ledergerber, Präsident der Kantonalpartei, drohte mit der «Hellebarde», Nationalrat Marcel Dettling drückte ihnen den Arbeitslosen- und Kriminellenstempel auf.
Schliesslich beschlossen die Mitglieder fast einstimmig die Lancierung ihrer Initiative. Nur der Winterthurer SVP-Parlamentarier Marc Wäckerlin meldete sich mit einem Votum gegen das Vorhaben: «Das ist eine typisch sozialistische Initiative», kommentierte der Ex-Pirat. Applaus erhielt er dafür keinen.
Die SVP möchte den Inländer:innen-Vorrang ‒ ähnlich wie damals bei der Masseneinwanderungsinitiative im Arbeitsmarkt ‒ nun auch für das Wohnen. Schweizer:innen oder Personen, die seit zehn Jahren im Kanton Zürich leben, sollen von Vermietenden bevorzugt werden. Allerdings nur, wenn die Schweiz vor 2050 mehr als 10 Millionen Einwohnende zählt.
Die SVP ist nicht die einzige Partei, die mit einer kantonalen Initiative gegen die Wohnungsnot vorgehen will. In den nächsten Monaten werden aus allen politischen Lagern verschiedenste Volksbegehren an die Urne kommen. Tsüri.ch hat sie für euch schon zusammengefasst. Die SVP steht jedoch alleine da mit der Idee, den Wohnungsmarkt über die Zuwanderung zu drosseln. Diese sei schliesslich «das Hauptproblem», sagte Nathalie Rickli.
Doch darüber gehen die Meinungen weit auseinander. «Ich glaube, die hohen Mieten in Zürich sind nicht nur auf Zuwanderung, sondern auch auf eine andere Anspruchshaltung zurückzuführen», sagte Hendrik Budliger vom Beratungsbüro Demografik Ende Mai dem Tagi. Denn diese Anspruchshaltung war in der Schweiz auch schon tiefer. 1970 lebten in einer Dreizimmerwohnung im Schnitt 2,7 Personen, heute sind es noch 1,9. Zudem wohnen Ausländer:innen um einiges bescheidener als Schweizer:innen, wie Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS) zeigen. In einem Schweizer Haushalt mit zwei oder mehr Personen beträgt die durchschnittlich bewohnte Fläche 43.6 Quadratmeter. Handelt es sich um einen schweizerisch-ausländischen Haushalt in derselben Grösse, sind es noch 32.4. Und ein rein ausländischer Haushalt verbraucht sogar nur 30.8 Quadratmeter pro Kopf.
Das eigentliche Problem, so Budliger im Interview, sei die Altersstruktur der Wohnbevölkerung. 1990 lag das Durchschnittsalter von Schweizer:innen bei 38, heute sind wir bei 46 Jahren. Das bemerken wir zuallererst auf dem Arbeitsmarkt, wo immer weniger Menschen im arbeitsfähigen Alter offene Stellen gegenüberstehen. Seit Jahren sind wir auf Zuwanderung angewiesen, um Positionen im Gesundheitswesen, der Baubranche oder in der Logistik zu besetzen und unsere Altersvorsorge zu decken. Dazu kommt: Wer älter ist, besitzt öfters Wohneigentum und lebt somit auch auf mehr Quadratmetern.
Das Initiativkomitee muss nun 6000 Unterschriften für das kantonale Volksbegehren zusammenbringen. Ob die Zürcher:innen die Wohnungsnot wirklich über eine staatliche Regulierung für die Vermieter:innen lösen wollen, wird sich nächstes Jahr an der Urne zeigen.
Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.
Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.