Sie schwimmt mit Titanplatten im Rücken um Medaillen
Für die 17-jährige Ylenia ist Schwimmen mehr als Sport. Sie lebt für den Wettkampf. Doch plötzlich nimmt ihre Geschichte eine Wendung, mit der niemand gerechnet hat.
Mit einem tiefen Atemzug und konzentriertem Blick steht Ylenia am Beckenrand. Ein kraftvoller Absprung, ein eleganter Bogen durch die Luft – und sie taucht ins Wasser ein. Glatt wie ein Pfeil durchschneidet sie die Oberfläche, jede Bewegung präzise, jeder Zug kontrolliert. Ylenia ist in ihrem Element.
Die 17-Jährige aus Waltalingen bereitet sich intensiv auf die kommenden Open-Water-Meisterschaften in Romanshorn vor. Viermal pro Woche springt sie fürs Schwimmtraining ins Becken des Schwimmbads Geiselweid, dazu kommen drei Einheiten Krafttraining. Seit drei Jahren trainiert sie beim SC Winterthur unter den wachsamen Augen des Cheftrainers Christoph Rufer. Am meisten reizt sie das Schwimmen draussen im offenen Wasser. Kein hell gekachelter Boden, der unter ihr vorbeizieht wie im Hallenbad. Stattdessen das dunkle, tiefe Blau, das sich unter ihr verliert. Genau dieses Gefühl, ins Unbekannte hineinzuschwimmen, gibt ihr den besonderen Kick.
Schon mit sechs Jahren entdeckt sie ihre Leidenschaft fürs Schwimmen. Damals ist es die pure Freude an der Bewegung, die sie immer wieder ins Becken zieht. Zwei Jahre später tritt sie ihrem ersten Schwimmclub bei – der Beginn ihres Wegs in den Leistungssport. Schon früh beobachtet sie die schnellen Schwimmer:innen neben sich und weiss: «So schnell möchte ich auch einmal sein.»
Wenn die Schülerin von ihren Wettkämpfen spricht, beginnen ihre Augen zu leuchten. «Ich liebe dieses Gefühl, wenn ich zeigen kann, was ich kann.» Unzählige Male stand sie bereits am Start, so oft, dass sie die genaue Zahl kaum mehr nennen kann. Rund 50 Medaillen hängen inzwischen in ihrem Zimmer – und es sollen noch viele mehr werden. Auch bei den Open-Water-Meisterschaften will sie ihren letzten Erfolg, Platz drei über drei Kilometer, übertreffen.
Doch es kommt anders. Im Juli 2024 verändert ein einziger Tag alles: Ylenia gerät mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einen Autounfall. Das Fahrzeug kommt von der Fahrbahn ab – dann wird alles schwarz. Als sie zu Bewusstsein kommt, spürt sie ihren Körper nicht mehr. Im Spital stellt sich heraus, dass ihre Wirbelsäule schwer beschädigt ist. «Die Lendenwirbel sahen aus wie ein Puzzle», erinnert sie sich. Eine Operation ist unumgänglich. Heute halten Titanplatten ihre Wirbelsäule zusammen. Der Weg zurück ins Leben wird zu einem langen, schmerzhaften Kampf. Lange kann Ylenia nicht laufen, jeder Versuch, sich aufzusetzen, bringt sie zurück in den Schreckensmoment des Unfalls. Flashbacks und Angst lähmen sie.
«Die ersten 100 Meter haben wehgetan. Aber es hat sich gut angefühlt – ich kam endlich wieder vorwärts.»
Ylenia Schwarzer, Schwimmerin beim SC Winterthur
Doch noch bevor sie wieder gehen kann, zieht es sie zurück ins Wasser. Bereits vier Wochen nach dem Unfall wagt sie sich das erste Mal wieder ins Becken. «Die ersten 100 Meter haben wehgetan. Aber es hat sich gut angefühlt – ich kam endlich wieder vorwärts.» Fünf Monate später nimmt sie das reguläre Training wieder auf.
Mit ihrem Coach arbeitet sie sich Schritt für Schritt voran. Doch Anfang Januar holen sie die Erinnerungen erneut ein. Ylenia muss eine Trainingspause einlegen und sucht Hilfe in einer Klinik. Die Depression zwingt sie, nochmals von vorn zu beginnen. Doch ein Gedanke lässt sie nie los: «Das Gefühl, wieder an einem Wettkampf teilzunehmen und zu zeigen, was ich kann – das liebe ich.»
Heute blickt sie wieder nach vorn. Das Pfeifen, der Sprung, das Eintauchen ins Wasser – das ist der Moment, für den sie kämpft. Mit Schrauben im Rücken will sie die drei Kilometer in rund 42 Minuten schwimmen. Den letzten Erfolg bei den Open-Water-Meisterschaften zu übertreffen, ist für Ylenia jedoch zweitrangig geworden: «Ich bin stolz, wenn ich den Wettkampf schaffe. Egal, wie ich abschneide – ich bin einfach froh, dass ich wieder schwimmen kann.»
Marit verdiente ihre Sporen im Lokaljournalismus bei der «Neuen Westfälischen» ab. Sie wohnt in Winterthur und arbeitete unter anderem bei der NZZ und im SRF-Newsroom. Vom Pressedienst der russischen Botschaft wurde sie schon als «wenig bekannte, junge Journalistin» abgekanzelt – eine unzweifelhafte Ehre, finden wir.