Schweres Gerät und luftige Tanzschritte

Zum 130. Jubiläum der Nagelfabrik findet in deren Räumlichkeiten eine Mischung aus Sounderlebnis, Tanzperformance und Geschichtsrundgang statt.

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«Archimedes träumt» ist eine Mischung aus Tanz, Performance und Audioerlebnis, mitten in der Nagelfabrik. (Bild: Tizian Schöni)

Eigentlich heisst sie ja «Schweizerische Nagelfabrik AG». Aber der herzige Kosename «Nagli» passt viel besser zu der kleinen, eingeschossigen Werkhalle in der Grüze als ihr sperriger Firmentitel. 130 Jahre alt ist die Fabrik dieses Jahr. Und noch immer produziert sie Flach- und Senkkopfstifte, Kupfernägel, solche mit zwei Spitzen ‒ sogenannte «Agraffen», zum Befestigen von Zäunen und Draht ‒ oder sogar Nägel mit Zahlen und Buchstaben darauf.

Einen solchen hat Melanie Mock bekommen, als sie vor sieben Jahren das erste Mal in der Nagli war. «Jemand hat mir einen M-Nagel in die Hand gedrückt», sagte sie an der Premiere zu «Archimedes träumt». Der Metallstift mit dem M auf dem Kopf ‒ ein sogenannter Bezeichnungsnagel ‒ diente früher als Informationsträger auf Eisenbahnschienen oder Telefonmasten.

Damals habe die Szenografin beschlossen, «hier möchte ich einmal etwas machen». Vergangenen Freitag war es nun so weit. Der ersten Besucher:innen-Gruppe wurden Kopfhörer über die Ohren gestülpt, und schon bald schwiegen die Teilnehmenden des Rundgangs und hörten stattdessen gebannt Archimedes zu, wie er durch die «Nagli» führte. Der griechische Mathematiker und Denker (Olivia Häberli) machte sich Gedanken über die Industrialisierung, über Kraft und Energie, Mensch und Maschine. Und lud seine Zuhörenden ein, das ebenfalls zu tun. Wer sich ganz auf die Inszenierung einliess, dem schienen die Grenzen zwischen Körper und Metall zu verschwimmen. Mal bewegten sich die tanzenden Arbeiter:innen stoisch und ruckartig, fast wie die grossen Vertikal-Schlagmaschinen, mal wirkten die rauen, von Eisenstaub und Maschinenöl überzogenen Geräte durch geschickte Lichtinstallationen fast lieblich.

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Archimedes (Olivia Häberli) führte die Besuchenden durch die Räume der Nagli ‒ hier in der alten Distribution. (Bild: Tizian Schöni)

Trotzdem gab es einige gesunde Brüche mit der Industrieromantik. Etwa die eingespielten Anekdoten von früheren Angestellten der Nagli (wunde Finger nach einem Tag des Nagel-Verpackens). Oder Gedanken über die dunklen Seiten der Industrialisierung (Elf-Stunden-Arbeitstag und Sechstagewoche), die einen leichten Gänsehaut-Moment auslöste.

Nach einer Dreiviertelstunde wieder draussen, mitten in einem traumhaften Sommerabend, fand sich das Publikum fast deplatziert wieder. Gerade schien noch Schmieröl an den eigenen Händen geklebt zu haben, dann holte der Duft des Grills aus der Festbeiz die Gruppe auch schon wieder auf den Boden zurück.

Die Inszenierung wird an zwei Wochenenden jeweils rund 15 Mal gezeigt, die Vorstellungen sind leider bereits ausverkauft. Melanie Mock hätte gerne noch öfters aufgeführt, aber natürlich war Rücksicht auf den laufenden Betrieb zu nehmen. «Ich durfte an einem Morgen bei den Mitarbeitern vorsprechen ‒ und habe Gipfeli mitgebracht», sagt sie. Bei den beiden Vorführ-Wochenenden habe man sich gefunden. 230’000 Franken sammelte ein eigens gegründeter Verein für die Inszenierung, viele Personen engagieren sich ehrenamtlich für das Projekt. Die Liste der Verdankten wollte während der verschiedenen Festreden kaum enden.

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Die Szenografin Melanie Mock ist Initiantin von «Archimedes träumt». (Bild: Tizian Schöni)

Heute wird die Nagli von einer Arbeitergenossenschaft, also selbstverwaltet, geführt. Hand dazu habe die letzte Inhaberfamilie geboten, erzählte der ehemalige Geschäftsführer Rainer Thomann in seiner Rede. Sie habe der Genossenschaft den gesamten Kaufpreis vorfinanziert und so ermöglicht, dass die Firma inklusive Grundbesitz in die Genossenschaft überging.

Dass die Nagli und ihr Innenleben heute noch zu einem guten Teil so erhalten sind, wie sie im 19. Jahrhundert aufgebaut wurden, ist massgeblich dem Architekten und Industriearchäologen Hans-Peter Bärtschi zu verdanken. 1998 wollte das Unternehmen die fünf historischen Vertikal-Schlagmaschinen, die immer noch über Transmissionsriemen angetrieben wurden, loswerden. Bärtschi schaffte es, das nötige Geld für einen Schaubetrieb, die Unterschutzstellung und die Instandsetzung der Maschinen aufzutreiben. Der inzwischen verstorbene Bärtschi gründete eine GmbH, die sich um den Unterhalt und die Organisation des Schaubetriebs kümmerte, 2014 wurde sie vom Verein Industrie- und Bahnkultur Inbahn abgelöst.

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Eine Führung in der «Nagli». Im Mittelpunkt eine der alten Vertikal-Schlagmaschinen, angetrieben durch ein Transmissionssystem. (Bild: ETH-Bildarchiv, Werner Hauser)

«Man hörts, schmeckts und spürts», sagte Rainer Thomann zum Gesamterlebnis Nagli. Möglich bleibt dieses Erlebnis dank Menschen, die sich dem Erhalt, der Vermittlung oder der Inszenierung von Geschichte und Kultur verschreiben. Menschen aus der Schweizerischen Nagelfabrik, dem Verein Inbahn oder von «Archimedes träumt».

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Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

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