Nach 70 Jahren packt die église française ihre Sachen

340 Jahre alt ist die französische Kirchgemeinde in Winterthur. Nun geht für sie ein neues Kapitel auf ‒ in Wülflingen.

Diese Geschichte beginnt weit weg von Winterthur ‒ und 340 Jahre in der Vergangenheit. Am 18. Oktober 1685 zeichnete Louis XIV. ein eng beschriebenes Papier. Und löste damit eine Massenflucht aus Frankreich aus. Mit seiner Unterschrift widerrief der «Sonnenkönig» das Edikt von Nantes, das den in Frankreich lebenden Protestant:innen ein knappes Jahrhundert lang Bürgerrechte und religiöse Freiheit eingeräumt hatte. Sie packten, was sie tragen konnten und flohen nach London, Amsterdam, Genf ‒ oder eben Winterthur.

Der Exodus führte in vielen Regionen zu neuen Kirchengründungen. Auch in Winti ‒ damals ein 2500-Seelen-Ort ‒ versammelte ein Pfarrer aus dem Südosten Frankreichs etwa 100 seiner Landsleute um sich. Und gründete die französisch-reformierte Kirche.

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Kirche ohne Gottesdienste: Die église française an der Neuwiesenstrasse 40. (Bild: Kiino Schoch)

Seither ist viel Zeit vergangen, in der die frankofone Kirchgemeinde mal gar nicht existierte, mal so sehr florierte, dass sie sogar ein Pfarrhaus kaufen konnte. Zuletzt wechselte sie ihren Standort 1955 an die Neuwiesenstrasse 40.

Genau dort steht nun aber seit geraumer Zeit ein Baugespann, bedrohlich umschlingen die Profile den zweistöckigen Bau mit der grosszügigen Freitreppe. Bereits 2019 wurde die Liegenschaft an die Hülfsgesellschaft Winterthur verkauft. Diese betreibt das angrenzende Seniorenzentrum Wiesengrund und besitzt zudem ein weiteres benachbartes Grundstück. Auf diesem, und dem der église réformée française, will sie das Projekt «Salpark» realisieren. Das Seniorenzentrum soll grossflächig erweitert werden (der Landbote berichtete).

Ein Gottesdienst fand an der Neuwiesenstrasse 40 zum letzten Mal am 24. August statt. Der «Exodus» war dieses Mal still und leise. Eine extra versandte Medienmitteilung sei von niemandem aufgegriffen worden, sagt die Sekretariatsmitarbeiterin am Telefon, mit etwas Resignation in der Stimme. «Vielleicht hat sie niemand verstanden, weil sie auf Französisch war.»

«Als wir den Auszug gefeiert haben, war das schon emotional.»

Christophe Kocher, Pfarrer an der église française

Was von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, bewegte die Gläubigen sehr wohl. Die Mitglieder hätten in einer kleinen Zeremonie die Kirchenausstattung aus dem Gebäude getragen, sagt Pfarrer Christophe Kocher. «Da gab es das ein oder andere feuchte Auge». Hier habe die Gemeinschaft jahrzehntelang Abdankungen, Taufen, Konfirmationen gefeiert. Das Gebäude sei ein Stück weit zu Hause geworden. Andererseits sei es auch ein langer Abschied gewesen. Dass gebaut werde, sei schon lange klar. «Jede Weihnachten, jede Osterfeier hiess es, das sei nun die letzte», sagt Christophe Kocher. Er sei froh, dass es jetzt endlich so weit sei.

Genau 70 Jahre feierte die Gemeinde ihre Gottesdienste an der Neuwiesenstrasse, unter den Buntglasfenstern des Winterthurer Künstlers Robert Wehrlin (zu lesen weiter unten) und begleitet von der imposanten Orgel auf dem Balkon. Man habe prüfen lassen, ob man sie als zweite Orgel in der Kirche oberhalb des Bahnhofs Stadelhofen hätte einbauen können. Dafür sei sie jedoch zu gross gewesen, sagt Christophe Kocher. Sie finde nun voraussichtlich eine neue Heimat in einer bayerischen Gemeinde.

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… und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Wehrlin gestaltete die acht Fenster nach Stellen aus der Offenbarung des Johannes. (Bild: église réformée zurichoise de langue française)

Die Glaubensgemeinschaft selbst kommt in Räumlichkeiten der reformierten Kirche Wülflingen unter. «Dort wird es fantastisch», schwärmt der Pfarrer. Die Neuwiesenstrasse sei wegen des bevorstehenden Neubaus nicht mehr richtig bewirtschaftet worden. «Und es gab überall Treppen.» In Wülflingen sind die Räume hindernisfrei zugänglich.

Eine wichtige Voraussetzung für die église réformée, deren Mitglieder älter und weniger werden. In Winterthur kämen jeweils zwischen 8 und 15 Personen zum Gottesdienst. Früher hätten Stellen in den Industriebetrieben der Stadt auch der Kirche neue Mitglieder beschert ‒ der Zulauf wegen des Arbeitsmarkts spüre man heute eher in Zürich.

Seit 2010 sind die französisch-reformierten Kirchen aus Winterthur und Zürich körperschaftlich eine «Kirchengemeinschaft», entsprechend erledige man viele Aufgaben zusammen. Die Jugendarbeit beispielsweise finde komplett in Zürich statt. Und bereits jetzt sei der Gottesdienst in Winterthur am Samstagabend, jener in der Nachbarstadt am Sonntag. So konkurrenzierten sich die Angebote nicht, und für Gläubige gäbe es zwei Möglichkeiten, den Gottesdienst zu besuchen.

Kunstfreund:innen, die jetzt aufgepasst haben, merken: Von Robert Wehrlins Apokalypse-Fenstern war gar nicht mehr die Rede. Sie sollen in den Neubau der Hülfsgesellschaft integriert werden. Und irgendwann wird auch die französische Glaubensgemeinschaft zurück an die Neuwiesenstrasse ziehen können. Wann, weiss Christophe Kocher noch nicht. In Wülflingen seien sie freundlich aufgenommen worden. «Das ist sowieso besser, als wenn jeder unter seinem eigenen Glockenturm bleibt.»

WNTI-Portrait-Tizian-Schoeni

Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.

Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.

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Kommentare

Anonym
04. September 2025 um 11:34

Vielen Dank für die Recherche. Die Visiere am Kirchengebäude hatte ich schon lange gesehen und mich gewundert. Nirgendwo hatte ich etwas über ein Bauprojekt gefunden, nicht in der klassischen Presse, aber auch nicht auf der Webseite der französischen Kirchengemeinde.