Erlischt auf dem Lindareal die «letzte Flamme der Industriestadt»?

Bis vor kurzem war ich kein eingefleischter Bahnfan. Gestern hat mich das Fieber dann aber doch gepackt, als ich in oranger Leuchtweste über das Lindareal zwischen Bahnhof und KSW gestreift bin. Dort habe ich mir begeistert alte Loks und Bahnwagen angesehen. Die SBB aber haben dort grosse Pläne, für die die historischen Loks weichen müssten.

Lindareal
Das Lindareal zwischen den Bahnlinien nach Schaffhausen und St. Gallen. (Bild: maps.geo.admin.ch)

Auf dem Lindareal stehen drei Eisenbahndepothallen, in der ältesten fahren seit 1856 Züge ein und aus. Bei meinem Besuch vor Ort treffe ich im wohl aussergewöhnlichsten Büro von Winterthur, einem ausrangierten Baustellenwagen auf Schienen, auf Mitarbeiter der Firma Historic Rail Services (HRS). Das Unternehmen restauriert als einzige Firma in der Schweiz historische Eisenbahnwagen und hat am vergangenen Wochenende ihr fünfjähriges Jubiläum mit einer offenen Werkstatt gefeiert. «Mit dem Restaurieren von Bahnwagen haben wir unsere Nische gefunden. Viele Bähnlervereine interessieren sich vor allem für die Restaurierung von Loks», erklären mir die Mitarbeiter. Spontan werde ich auf eine Tour durch alle drei Hallen mitgenommen.

Heute stehen hier mehr Autos als Züge. Früher lag hier statt einem Parkplatz noch ein Gleisbett.
Heute stehen hier mehr Autos als Züge. Früher lag hier statt einem Parkplatz noch ein Gleisbett. (Bild: Gioia Jöhri)

Neben der Firma HRS hat sich der Verein «Dynamometerwagen» in der Halle eingemietet. Er kümmert sich um die Restauration und Instandhaltung des gleichnamigen Wagens. Der Bahnwagen wird oft gemietet und fährt in der ganzen Schweiz herum.

«Das Interesse am Dynamometerwagen ist riesig. Wir kommen gar nicht nach mit den Anfragen.»

Christoph Rutschmann, Verein Dynamometerwagen Winterthur

Christoph Rutschmann ist begeisterter Bahnfan und wünscht sich, dass die SBB die Gleisanschlüsse in ihrem grossen Immobilienprojekt «Lindareal» mitdenken. Ansonsten werde es für die Bahnnostalgiker:innen, die heute auf dem Areal eingemietet sind, nutzlos. «Ohne Gleisanschluss ist die heutige Nutzung tot»

Dynamometerwagen (rechts)
Der Dynamometerwagen in Grün hat das Baujahr 1913. (Bild: Gioia Jöhri)

Das Projekt «Lindareal» der SBB will das Areal zwischen Rundstrasse, Lindstrasse und Gleisfeld umgestalten zu einem «neuen Stadtquartier und Begegnungsort, der Wohnen, Arbeiten, Bildung und Freizeit vereint», wie es auf der Projektwebsite heisst. Die drei Hallen sind alle denkmalgeschützt und sollen grösstenteils erhalten bleiben. Restaurants sollen den neu geschaffenen Wohnraum beleben und auch die ZHAW hat bereits Interesse angemeldet. Ein nutzbarer Gleisanschluss gehört jedoch nicht zu den Plänen.

Lindareal neu
Erste Visualisierung der Umgestaltung des Lindareals. (Bild: lindareal.ch)

Ebenfalls betroffen von den Plänen ist das Team Winterthur der SBB-eigenen Stiftung SBB-Historic. Es hält diverse Loks in Schuss, die in der ältesten Halle von 1856 beheimatet sind. Im roten Riegelbau riecht es nach Öl, als wir zwischen den alten Elektroloks hindurchschreiten. Dieses Erbe der Industrie- und Eisenbahnstadt Winterthur sei wichtig, erklärt mir Martin Hausammann, der das Team Winterthur präsidiert.

«Die Industriekultur darf in Winterthur nicht vergessen werden.»

Martin Hausammann, Präsident Verein SBB Historic Team Winterthur

Auch Christoph Rutschmann weist darauf hin, dass Winterthur ohne die Maschinen- und Lokomotivindustrie, beispielsweise mit der Firma SLM, nicht zur Stadt geworden wäre, die sie heute ist.

«Auf dem Lindareal brennt die letzte Flamme der Industriestadt Winterthur»

Christoph Rutschmann, Verein Dynamometerwagen Winterthur

Dass die Öffentlichkeit viel zu wenig Bescheid wisse über das historische Eisenbahnerbe von Winterthur solle sich in Zukunft ändern, so Rutschmann.

«Uns schwebt ein Museum vor, das lebt und die Industrievergangenheit erleb- und im wahrsten Sinne des Wortes erfahrbar macht». Mit der SBB-Projektleitung zur Umgestaltung des Lindareals sei man im Austausch.

Die Mietverträge aller Parteien für die Hallen laufen vorerst noch bis 2030. Bis dahin erhofft sich Rutschmann, dass die Vereine eine gemeinsame Lösung mit den SBB werden finden können. Man wolle das Projekt verbessern und nicht verhindern. «Der Zug ist noch nicht abgefahren.»

Lok Seetalbahn
Auch eine Lok der «Sensetalbahn» hat in Winterthur eine neue Heimat gefunden. Der blaue Wagen rechts wird von HRS gerade restauriert. (Bild: Gioia Jöhri)
WNTI-Portrait-Gioia-Joehri

Gioia ist nicht nur in der Redaktion bei WNTI tätig, sondern arbeitet auch als Videoredaktorin bei SRF News. Winterthur kennt sie bestens, denn sie verbrachte hier ihre Gymnasialzeit. Ausserdem ist es gut möglich, dass sie mehr über dein Haus weiss als du selbst, denn schon bei der Historiker:innen Zeitschrift schrieb sie über die faszinierenden Geschichten, die in den Mauern und Fassaden der Städte verborgen sind. Ihre Leidenschaft für die früheren Lebenswelten der Winterthurer:innen ist ebenso ausgeprägt wie ihre Neugier auf die Lebensrealitäten anderer Menschen.

Das könnte dich auch interessieren

Kommentare