«Mit einer Familie würde ich nicht über die Runden kommen»
Erwerbslosigkeit bedeutet mehr als fehlendes Einkommen – sie bringt Unsicherheit, Scham und oft den Verlust von Perspektiven mit sich. Peter weiss, wie sich das anfühlt. Seine Geschichte zeigt, wie schwer es sein kann, wieder Fuss zu fassen.
Peter faltet die Hände und legt sie behutsam auf den Tisch. Zwischen seinen Fingern knirscht feiner Staub, der sich im Laufe des Tages dort abgesetzt hat. Mit dem Daumen fährt er über die Haut, als wolle er den grauen Schleier lösen, der sich nach Stunden im Lager darübergelegt hat. «So sehen die Hände eben nach einem langen Tag zwischen Weissblech und Alu aus», sagt er leise. Er will von seinen Erfahrungen berichten, aber nicht erkannt werden. Deshalb haben wir seinen Namen hier geändert.
Der gebürtige Winterthurer arbeitet bei einem Recyclingunternehmen – eine Stelle, die er über Läbesruum gefunden hat. Die Organisation ist spezialisiert auf die soziale und berufliche Integration von Menschen. Die Arbeit sei schweisstreibend, aber sie gebe ihm Sicherheit. «Oft stehe ich morgens da und erfahre erst dann, ob es Arbeit für mich gibt», erzählt der 54-Jährige. Hier sei man jedoch bemüht, allen eine Beschäftigung zu geben. Denn für Peter zählt jede Arbeitsstunde. Sein Einkommen reicht gerade für ihn allein. «Mit einer Familie würde ich nicht über die Runden kommen.»
Eigentlich ist Peter gelernter Laborant. Doch nachdem er seine Lehre abgeschlossen hatte und in dem Betrieb arbeitete, wurde die Produktion ins Ausland verlagert. Wie viele andere musste er gehen. Später bewarb er sich erneut als Laborant bei einem anderen Unternehmen – vergeblich. Um überhaupt arbeiten zu können, nahm er eine Stelle bei der Brauerei Stadtguet an.
Drei Jahre später endete auch diese Beschäftigung, weil qualifizierte Fachkräfte gefragt waren. Dann begann der zermürbende Kreislauf: vereinzelte Bewerbungen, viele Absagen, oft nicht einmal eine Einladung zum Gespräch.
Sieben Jahre vergehen, bis er bei Läbesruum anklopft. In dieser Zeit wird es für ihn immer schwieriger, Bewerbungen zu schreiben. «Oft prüfen die Firmen die Unterlagen schon mit dem Computer und sortieren aus, wenn sie nur schon den Jahrgang sehen», vermutet er. Heute sagt er, er hätte diesen Schritt viel früher tun sollen – «aber ich habe ihn einfach nicht gewagt.»
Mit dieser Herausforderung ist Peter nicht allein. Ende Juni lag die Arbeitslosenquote im Kanton Zürich bei 2,5 Prozent. In Winterthur sind zu diesem Zeitpunkt 2257 Menschen offiziell arbeitslos gemeldet. Gleichzeitig steht die Zürcher Wirtschaft vor einer anderen Herausforderung: dem Fachkräftemangel. Laut dem Wirtschaftsmonitoring des Zürcher Amts für Wirtschaft könnten bis 2050 rund 83’000 Erwerbstätige im Kanton fehlen. Oliver Seitz, Geschäftsführer des Läbesruum, kennt diese Zahlen. «Die Firmen brauchen trotz Arbeitskräftemangel leistungsfähige Leute. Doch wer den Anforderungen nicht gerecht wird, fällt durchs Raster», sagt er.
Seit 13 Jahren arbeitet Seitz an der Pflanzschulstrasse und hat in dieser Zeit viele Schicksale kennengelernt. Die Gründe, weshalb Menschen zu ihnen kommen, seien vielfältig. Auffällig sei jedoch, dass rund 60 Prozent weder eine Grundausbildung noch eine Berufslehre abgeschlossen hätten – und das sowohl bei Migrant:innen als auch bei Schweizer:innen. Viele würden aus der Not zu Gelegenheitsjobs greifen und dadurch die Chance auf eine Ausbildung verpassen.
Gegen dieses Problem hat zum Beispiel die Stadt Zürich bereits erste Massnahmen ergriffen: Seit Anfang 2024 vergibt sie sogenannte Arbeitsmarktstipendien. Diese ermöglichen berufliche Weiterbildungen für Menschen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Mitglieder der SP, Grünen, AL, GLP und EVP wollen das Konzept für Winterthur adaptieren und haben 2024 eine Motion eingereicht. Die Frist zur Ausarbeitung einer gesetzlichen Grundlage läuft noch bis Ende Juni 2026.
«Niemand muss sich dafür schämen, erwerbslos zu sein. Das kann wirklich jedem passieren.»
Oliver Seitz, Geschäftsführer Läbesruum
Ähnlich wie bei Peter sei aber auch oft das Alter entscheidend. Wenn man einmal zu lange seine Branche verlassen habe, finde man nur schwer wieder den Weg zurück, erklärt der 50-Jährige. Auch die psychische Belastung spiele eine grosse Rolle. Dabei gehe es längst nicht nur um psychische Erkrankungen, sondern auch um schlechte Erfahrungen oder krankheitsbedingte Ausfälle. Denn nicht jeder Mensch könne die gleiche Arbeitsleistung erbringen. Manche hätten Angst, stigmatisiert zu werden. Für Seitz steht jedoch fest: «Niemand muss sich dafür schämen, erwerbslos zu sein. Das kann wirklich jedem passieren.»
Diese Angst hat auch Peter lange beschäftigt. Er wollte nie, dass jemand denkt, er wolle nicht arbeiten. Die Tätigkeit beim Läbesruum gibt ihm einen festen Tagesrhythmus und eine Referenz, die er vorweisen kann. Mit Unterstützung aus dem Jobcoaching vor Ort will er sich wieder bewerben. Manchmal höre er aus seinem Umfeld, er sei ein Sozialfall, weil er dort arbeite. Doch er widerspricht entschieden: «Ich bin kein Sozialfall – sonst würde ich ja nicht hier arbeiten.»
Marit verdiente ihre Sporen im Lokaljournalismus bei der «Neuen Westfälischen» ab. Sie wohnt in Winterthur und arbeitete unter anderem bei der NZZ und im SRF-Newsroom. Vom Pressedienst der russischen Botschaft wurde sie schon als «wenig bekannte, junge Journalistin» abgekanzelt – eine unzweifelhafte Ehre, finden wir.