Ankommen in Winterthur – dank eines Tandems

Ramazan ist 35 Jahre alt, stammt aus der Türkei und lebt heute mit seiner Familie in Winterthur. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) hat ihn mit der Freiwilligen Eve vernetzt und die beiden treffen sich jedem Woche zum Tandem. Die Beiden erzählen an einem Treffen, warum sich ein solches Tandem für alle lohnt.

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Ramazan und Eve treffen sich jede Woche, dieses Mal im Migros-Restaurant.

Wir treffen uns bei der grossen Treppe am Bahnhof. «Heute haben wir etwas zu feiern», sagt Eve und schaut stolz zu Ramazan rüber. «Ich habe gerade die B1-Deutschprüfung bestanden», erklärt Ramazan in einwandfreiem Hochdeutsch. Zur Feier des Tages möchten die beiden im Migros-Restaurant mit Tee anstossen. «Wir gehen oft etwas trinken oder erkunden die Gegend um Winterthur», sagen die beiden. In der Regel trifft sich ein Tandem zwei Stunden pro Woche. Auch Eve und Ramazan halten das so, aber nicht immer: «Einmal waren wir zusammen im Kunstmuseum und haben völlig die Zeit vergessen, weil wir so fasziniert waren», sagt Eve lachend.

Mit dampfendem Tee in der Hand erklärt mir Ramazan, weshalb er unbedingt am Tandem-Projekt mitmachen wollte: «Ich habe viel gelernt im Deutschkurs. Aber fürs Sprechen ist es nicht genug. Und ich habe gemerkt, dass man fürs Arbeiten und Lernen hier noch mehr sprechen lernen muss.» Mit Eve habe es von Anfang an gepasst, sagt er. Eve fügt an: «Ramazan ist sympathisch und ein sehr interessierter Mensch. Das merkt man nur schon an den Gesprächen, die wir führen. Wir reden über alles, über Kindererziehung, Finanzen, Politik oder Kunst».

Ramazan ist 35 Jahre alt und kommt aus der Türkei. Auf den ersten Blick kein klassisches Herkunftsland von Asylbewerbenden. Trotzdem nehmen die Asylbewerbenden aus der Türkei seit einigen Jahren zu: In der neusten Asylstatistik des Bundes vom Oktober 2025 gehen 21 Prozent der gewährten Asylgesuche auf das Herkunftsland Türkei zurück. Laut der Schweizerischen Flüchtlingshilfe nehmen die Gesuche zu, weil die juristische und politische Repression im Land zugenommen habe. In der Türkei werde die Strafverfolgung immer häufiger dazu eingesetzt, «regierungskritisches Handeln zu verhindern». Auch Ramazan sagt, dass in seiner Heimat ein solches Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet worden sei: «Das Rechtssystem ist dort problematisch. Ich möchte frei leben mit meiner Familie. In der Schweiz ist das möglich».

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Ramazan hat sich zum Ziel gesetzt, alle 26 Kantone der Schweiz zu erkunden. Hier ein Foto vom Rheinfall. (Bild: zvg)

Ramazan lebt mit seiner Frau und seinem achtjährigen Sohn in Wallrüti. «Es ist eine Wohnung am Stadtrand, das gefällt uns», sagt er. Sowieso schätze er Winterthur sehr, gerade für junge Familien sei es super hier. In der Türkei hat er Jura studiert und würde auch in der Schweiz gerne wieder arbeiten. Aber sein Diplom ist hier nicht anerkannt. Ramazan möchte deshalb an einer Fachhochschule nochmals studieren. Finanziell sei das aber grad noch schwierig, weil das Sozialamt nur Lehrausbildungen finanziert. «Es ist ein grosses Problem, dass es Jahre geht, bis die Diplome anerkannt werden von den Schweizer Behörden», sagt Eve. Und manchmal werden sie gar nie anerkannt.

Unsere Teetassen sind schon lange ausgetrunken, aber die Gesprächsthemen gehen uns nicht aus. Eve und Ramazan wirken wie alte Freunde, die sich schon lange kennen. Eve sagt, dass sie sich jede Woche auf die Treffen freue, obwohl sie sehr viel arbeitet. «Es ist einfach mega schön und bereichernd mit Ramazan», sagt sie. Zudem helfe es ihr, mit der Welt von heute zurechtzukommen: «In der Welt, in der wir leben, ist es gesund, wenn ich als Mensch etwas bewirken kann, damit ich nicht verzweifle». Das SRK Kanton Zürich hat seit 2021 bereits 202 Tandems betreut. Das Projekt sei sehr erfolgreich, sagen die Verantwortlichen beim SRK. Zurzeit warten 51 Geflüchtete auf eine Tandemparterin oder einen Tandempartner. Immer wieder gibt es deshalb Infoveranstaltungen, an denen sich Interessierte aus den Bezirken Winterthur und Andelfingen zum Projekt informieren können. Auch Ramazan und Eve wünschen sich, dass mehr Leute an einem Tandem teilnehmen würden. «Es ist einfach schwierig, weil Ramazan hier kein Netzwerk hat. Es braucht Mut, neue Kontakte zu knüpfen und auch Selbstbewusstsein und Zeit», sagt Eve. Genau da knüpfe das Tandem an.

Nun aber gehe es erst einmal in die Weihnachtsferien. Gefragt nach den Plänen über die Festtage steht Ramazan sofort die Begeisterung ins Gesicht geschrieben: Er hat sich nämlich zum Ziel gesetzt, in alle 26 Kantone zu reisen. Vielleicht gehe es in den Schulferien mit seinem Sohn ins Wallis mit dem Zug. «Das Matterhorn haben wir noch nicht gesehen», sagt er schmunzelnd.

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Gioia ist nicht nur in der Redaktion bei WNTI tätig, sondern arbeitet auch als Videoredaktorin bei SRF News. Winterthur kennt sie bestens, denn sie verbrachte hier ihre Gymnasialzeit. Ausserdem ist es gut möglich, dass sie mehr über dein Haus weiss als du selbst, denn schon bei der Historiker:innen Zeitschrift schrieb sie über die faszinierenden Geschichten, die in den Mauern und Fassaden der Städte verborgen sind. Ihre Leidenschaft für die früheren Lebenswelten der Winterthurer:innen ist ebenso ausgeprägt wie ihre Neugier auf die Lebensrealitäten anderer Menschen.

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