Stadt verliert Tempohoheit auf ihren Strassen
Künftig sagt der Kanton, auf welchen Hauptverkehrsachsen er Temporeduktionen durchsetzen will. Zu allen anderen Vorlagen sagten die Stimmberechtigten Nein ‒ ausser bei einer Formalie. Der Stadtrat darf ab sofort die Anzahl Wahlbüromitglieder selbst bestimmen.
158 Gemeinden waren dafür, zwei dagegen ‒ jene, die als einzige von der Vorlage betroffen gewesen waren. Winterthur (53.4 Prozent Nein) und Zürich (57.2 Prozent Nein) können künftig nicht mehr selbst entscheiden, ob sie das Tempo auf ihren eigenen, überkommunalen Strassen reduzieren möchten. 56.77 Prozent der Stimmbevölkerung sprach sich für die Umsetzung der Mobilitätsinitiative der Bürgerlichen aus ‒ obwohl die gewichtigsten Wahlkreise in den Städten ein Nein eingelegt hatten.
In Winterthur scherten die Stadtkreise Wülflingen, Töss und Seen aus. Sie nahmen die Vorlage ebenfalls mit 52.8, 51.4 und 61.1 Prozent Ja-Stimmen an. Alle anderen verwarfen die Initiative der bürgerlichen Parteien, am wuchtigsten Velten mit 64,1 Prozent Nein-Stimmen.
Bauvorsteherin Christa Meier (SP) sagte gegenüber dem «Tages-Anzeiger» gestern, das bisherige System habe sich bewährt. «Nun wird es auseinandergerissen.» Die Stadt sei für Planung, Bau und Unterhalt der überkommunalen Strassen zuständig ‒ nur für die Tempo-Signalisierung nicht mehr. Schon im Vorfeld hatte die Stadträtin gewarnt, Verfahren würden nun komplizierter. Diese Befürchtung wiederholte sie gestern vor den Medien.
Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh (FDP) hingegen freute sich, wie der «Tages-Anzeiger» berichtete. Und sagte, «Bestehende Tempo-30-Strecken könnten rückgängig gemacht werden.» Was das für die Tösstalstrasse heisst, auf der die Stadt nach einer Sanierung auf einem über zwei Kilometer langen Abschnitt Tempo 30 anordnen will, wird die Zukunft zeigen.
Die städtische Mitte liess am Abend über eine Medienmitteilung verlauten, das Ja sei auch ein Bekenntnis zu einem attraktiven ÖV. Die Partei hat noch die kommunale Initiative «Freie Fahrt für den Bus» im Köcher, die dasselbe wie die nun angenommene Mobilitätsinitiative für Winterthur forderte. Ob sie die Initiative jetzt zurückzieht, sagt die Partei jedoch noch nicht. «Das Initiativkomitee wird das Abstimmungsresultat analysieren und zu einem späteren Zeitpunkt über das weitere Vorgehen informieren», heisst es in der Mitteilung.
Keine Chance für digitale Integrität, mehr bezahlbaren Wohnraum und Prämienverbilligung
Klar verworfen wurden die beiden anderen kantonalen Initiativen. Jene «für ein Grundrecht auf digitale Integrität» (WNTI berichtete) lehnten alle Gemeinden im Kanton ab, auch in Winterthur stimmten je nach Wahlkreis zwischen 69 und 75 Prozent der Stimmberechtigten dagegen. Selbst der vom Kantonsrat abgeschwächte Gegenvorschlag wurde mit 55 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Winterthur hätte sich mit 51.2 Prozent Ja-Stimmen jedoch dafür ausgesprochen. Er hätte Teile der Initiative übernommen, der Winterthurer Datenschutzbeauftragte Tobias Naef hatte im Vorfeld von einer «willkommenen Stärkung des Datenschutzes» gesprochen.
Dreimal schon hatte die Zürcher Stimmbevölkerung in den vergangenen Jahren ein Nein gegen weitere Entlastungen für die immer steigenden Krankenkassenprämien in die Urnen gelegt. Nun kommt ein viertes Mal dazu ‒ aber ein knappes. Mit 51.07 Prozent sagt der Kanton Nein zu 50 bis 60 Millionen Franken mehr im Ausgleichstopf. Winterthur sprach sich ‒ mit Ausnahme des konservativen Stadtkreises Seen ‒ für den Zustupf aus. Knapp 58 Prozent der Stimmberechtigten sagten Ja zur Vorlage.
Nach der Annahme einer 13. AHV-Rente und der Abschaffung des Eigenmietwerts sprachen Medien und Politik vom «Selbstbedienungsladen» an den Abstimmungssonntagen. Diesem Bild widerspricht das heutige Abstimmungsresultat. Denn von mehr Prämienverbilligung hätten viele profitiert. Im Kanton Zürich können Familien mit einem Haushaltseinkommen unter 94'000 Franken bzw. 75'500 Franken, wenn sie noch minderjährige Kinder haben, Prämienverbilligung beziehen. 2026 wird der Kanton 1,36 Milliarden Franken umverteilen.
Und schliesslich versenkten die Zürcher:innen auch das von Mitte, EVP, GLP, SP, Grünen und AL geforderte Vorkaufsrecht für Gemeinden auf Liegenschaften. Die Initiative «Mehr bezahlbare Wohnungen im Kanton Zürich» hätte es den Kommunen ermöglicht, in bestimmten Fällen ein Grundstück vor privaten Käufer:innen zu erwerben, wenn sie es für sozialen Wohnungsbau genutzt hätten. Davon wollten die Gemeinden nichts wissen. Bis auf Winterthur und Zürich lehnten alle die Initiative ab, insgesamt gab es mit 59,3 Prozent ein kräftiges Nein. Als einzige Stadtkreise in Winterthur legten Wülflingen und das traditionell konservative Seen ein Nein in die Urne.
Der Gegenvorschlag, der den Geldtopf des Kantons für gemeinnützigen Wohnungsbau besser ausstattet, wurde hingegen mit 51 Prozent der Stimmen angenommen. Winterthur profitiert von diesen Millionen jedoch unterdurchschnittlich. Wenn der Kanton genossenschaftlich baut, dann meist in Zürich. In den nächsten Monaten werden sieben weitere Wohn-Initiativen an die Urne kommen.
Service-citoyen-Initiative und Erbschaftssteuer der Juso deutlich versenkt
Über 84 Prozent der Stimmberechtigten sagten Nein zur Initiative, die einen Militär- und Zivildienst für Männer und Frauen gefordert hatte. In Winterthur war die Klatsche für das unabhängige Komitee zwar etwas weniger stark, dennoch sagte mehr als jede:r Vierte Nein (78 Prozent). WNTI-Lesende waren in unserer Befragung vor den Abstimmungen etwas gütiger gewesen, «nur» 58 Prozent sprachen sich gegen die Vorlage aus. Im Vorfeld hatte einzig die GLP das Anliegen der Initiant:innen unterstützt.
Ähnlich einig waren sich die Schweizer:innen über die Erbschaftssteuer der Juso: Auch sie wurde mit über 84 Prozent der Stimmen versenkt. In Winterthur war das Nein aus der Altstadt das mildeste. Nur 55 Prozent der Stimmberechtigten sprachen sich dort gegen die «Initiative für eine Zukunft» aus. Die 50-Prozent-Taxe, die bei einer Erbschaft ab einem Vermögen von 50 Millionen Franken fälllig geworden wäre, hätte laut den Initiant:innen in den Klimaschutz investiert werden müssen.
Stadtrat darf Anzahl Wahlbüromitglieder bestimmen
Eine Formalie wurde in Winterthur dafür mit über 91.1 Prozent der Stimmen bestätigt. Der Stadtrat darf die Zahl der Wahlbüromitglieder künftig selbst bestimmen. Fragt sich: Wer waren die neun Prozent der Stimmberechtigten, die der Kompetenzerteilung misstrauten? Die Parlamentsmitglieder können es nicht gewesen sein, sie hatten der Änderung im Juli einstimmig zugestimmt.
Wie die meisten Journalist:innen in Winterthur studierte auch Tizian an der ZHAW. Anders als die meisten aber begann er in der Kommunikation, bevor ihn der Journalismus rief. Nach fünf Jahren bei Zuriga startete Tizian bei der Andelfinger Zeitung in den Lokaljournalismus.
Doch bereits nach zweieinhalb Jahren zog es ihn weiter. Allerdings nicht, weil er die Passion für die journalistische Paradedisziplin verloren hatte, im Gegenteil. Als Mitgründer und Chefredakteur von WNTI, macht er jetzt das, was "Winti Chinde" am besten können – über ihre Stadt erzählen.