Viel gebaut, aber (noch) wenig verbunden: die Lokstadt im Aufbruch
In der Lokstadt tut sich etwas: Gestern Mittwoch hat das «Kafi Dia» ein Weihnachts-Popup eröffnet, das Living Lab der ZHAW testet Projekte für ein nachhaltiges Zusammenleben und verschiedenste Nachbar:innen tun sich zusammen. Sie haben ein gemeinsames Ziel: den Gemeinschaftssinn zu fördern. Denn die Lokstadt ist bisher ein Quartier, in dem viele Menschen wohnen ‒ aber nur wenige leben.
An einem stürmischen Herbsttag empfängt mich Andrea in ihrer Wohnung im «Tender-Hochhaus» (siehe Karte unten). Sie will mir zeigen, wie es sich hier lebt. Vor circa zwei Jahren ist sie mit ihrem Partner in eine 4.5-Zimmer-Wohnung gezogen. «Mit der Wohnung sind wir zufrieden, abgesehen vom starken Wind in der Loggia und dem Heiss- und Kaltwasserproblem», erzählt sie mir. Immer wieder mal gibt es nur heisses oder kaltes Wasser. Und dass der Wind in dieser Höhe ein Problem ist, merke ich auf dem Balkon gleich selbst. Für beide habe die Verwaltung noch keine Lösung. Was sie jedoch noch mehr beschäftigt, ist die Nachbarschaft:
«Viele wohnen einfach hier und arbeiten in Zürich oder sind viel unterwegs. Für den Gemeinschaftssinn ist das eine schwierige Voraussetzung.»
Andrea, Bewohnerin Tender-Hochhaus
Andrea wohnt in einer Mietwohnung. Im Tender und im Bigboy gibt es Miet- und Eigentumswohnungen im eher höheren Preissegment, gleiches gilt für die Stadthäuser. Im Krokodil kümmern sich die Genossenschaften Gesewo und Gaiwo um preisgünstige Mietwohnungen. Das Winterthurer Stimmvolk sagte 2015 Ja zum Gestaltungsplan für das ehemalige «Sulzerareal Werk 1». Bereits damals wurde festgehalten, dass 30 Prozent der Wohnungen preisgünstig sein müssen. Heute sind fast alle Pläne der Bauherrin Implenia verwirklicht. Am 10. Dezember steht die Eröffnung des Casinos an. Eine grosse Fläche ist aber noch frei: Dort sollen bis 2030 das Tigerli-Gebäude und das Rocket-Hochhaus stehen.
In der Lokstadt lebt es sich heute in einem urbanen Umfeld. Debora Frei forscht an der ZHAW zu nachhaltiger Nachbarschaftsentwicklung. «Es ist ein sehr spannendes Umfeld für uns. Hier kamen innerhalb von zwei bis drei Jahren 1000 Leute hin», erklärt Frei. Das ZHAW-Projekt Living Lab möchte es den Anwohnenden einfacher machen, sich zu vernetzen. In Workshops ist beispielsweise die Idee für eine Übersichtskarte mit Angeboten in der Lokstadt entstanden. Manchmal sei es schwierig, mit den Projekten alle Bewohnenden zu erreichen, denn es gebe zwei verschiedene Gruppen: «Die einen wohnen nur da und arbeiten vielleicht in Zürich und die anderen sind sehr motiviert, etwas zu verändern», erklärt Frei und ergänzt: «Wir hören von vielen im Quartier, dass sie sich mehr Zusammenhalt wünschen.»
Auch Andrea wünscht sich eine Nachbarschaft, in der man sich kennt. Viele in ihrem Haus seien Expats, deshalb werde auch der Haus-Chat meist auf Englisch geführt. Katharina Landolf, die im Tender Riegel wohnt, findet, dass es im Quartier eine gute Durchmischung gebe: «Jung und Alt wohnen hier nebeneinander und in letzter Zeit gibt es viele neue Projekte.» Eines davon ist das Kafi Dia. Es hat gestern seine Tore als Weihnachts-Pop-Up geöffnet. «Wir haben noch einige Nachtschichten eingelegt in den letzten zwei Wochen», erzählt Mitinitiantin Claudia Bundi lachend. Dafür klappe nun alles so wie gewünscht. Die ersten Kaffees sind verkauft, Kinder wuseln herum, ein kleiner Weihnachtsshop ist eingerichtet und draussen warten Bäumchen darauf, vermietet zu werden. Im Frühling 2026 öffnet das Lokal dann offiziell, vorher gibt es noch einen kleinen Umbau. «Wir haben eine Architektin aus dem Quartier dafür gefunden», verrät Bundi.
Das Kafi Dia gehe in die richtige Richtung, sagt Debora Frei von der ZHAW. «Es braucht aus unserer Sicht mehr einladende Orte in der Lokstadt, an denen man einfach sein kann.» Dem pflichtet auch eine ältere Bewohnerin einer Gaiwo-Wohnung zu. «Ich würde mir mehr Sitzgelegenheiten draussen wünschen. Und ein wenig mehr Grün». Zudem sei es häufig sehr laut. «Leider funktionieren die Gassen wie Verstärker. Ich höre Gespräche von unten, als wären sie bei mir im 4. Stock», sagt Katharina Landolf. Und sie sei enttäuscht, weil sie in ein autofreies Quartier ziehen wollte. «Die Stadt ist hier einfach zu tolerant. Es kommen Leute laufend mit dem Auto, um im Migros Teo einzukaufen», sagt Landolf.
Bei der Stadt sind die Lärm- und Autoprobleme und der Wunsch nach Grünflächen bekannt. Einmal im Jahr trifft sich die Begleitgruppe aus der Lokstadt mit Vertreter:innen der Stadt, um genau solche Probleme anzusprechen. In dieser Begleitgruppe sitzt Melanie Mock, die mit dem Orbit-Gemeinschaftsraum, einem Projekt der Reformierten Stadtkirche Winterthur, seit fünf Jahren im Krokodil beheimatet ist. «Wir sind froh, dass es diesen direkten Kontakt zur Stadt gibt», sagt sie. Und man verstehe auch, dass es keine schnellen Lösungen gebe. Die Stadt teilt auf Anfrage mit, dass die Lärmkontrollen beispielsweise mit der Bike-Polizei verstärkt worden sind. Und dass das Tiefbauamt eine «alternative Formulierung der Ausnahmen» für das Fahrverbot prüfe. Dies lässt vermuten, dass die bisherigen Ausnahmen für Zulieferungsdienste zu grosszügig interpretiert worden sind.
Es scheint, als müsse die Lokstadt die Balance zwischen Urbanität und gemeinschaftlicher Nachbarschaft noch finden. «Man muss dem Quartier eine Chance und auch Zeit geben. Und man muss auch selbst etwas beitragen», sagt Katharina Landolf. Auch Andrea spürt die Aufbruchsstimmung und organisiert dieses Jahr ein Adventsfenster inklusive Apéro im Tender-Hochhaus. Es tut sich etwas in der Lokstadt.
Gioia ist nicht nur in der Redaktion bei WNTI tätig, sondern arbeitet auch als Videoredaktorin bei SRF News. Winterthur kennt sie bestens, denn sie verbrachte hier ihre Gymnasialzeit. Ausserdem ist es gut möglich, dass sie mehr über dein Haus weiss als du selbst, denn schon bei der Historiker:innen Zeitschrift schrieb sie über die faszinierenden Geschichten, die in den Mauern und Fassaden der Städte verborgen sind. Ihre Leidenschaft für die früheren Lebenswelten der Winterthurer:innen ist ebenso ausgeprägt wie ihre Neugier auf die Lebensrealitäten anderer Menschen.