Tragisch ist nur, wenn die Frau keine Wahl hat

Derzeit kommt niemand an der berühmten Geschichte um das Baby in der Futterkrippe herum. Im Stall gebären? Eine, die damit nicht überfordert wäre, ist Melissa Leu (32). Die Winterthurerin begleitet seit drei Jahren als selbständige Hebamme Hausgeburten in und um Winti. Insgesamt hat sie bereits 18 Kindern im eigenen Daheim auf die Welt geholfen. Maria traf sie zum Interview.

«Tragisch ist meiner Meinung nach nicht das eine oder andere, sondern wenn eine Frau keine Wahl hat.»

Melissa Leu, Hebamme

Melissa, lass uns mit der spannendsten Frage starten: Welches war der bisher verrückteste Ort, an dem du eine Geburt begleitet hast?

Melissa Leu: Hausgeburten sind in der Regel sehr entspannt und ruhig. Aber einmal durfte ich eine Geburt auf einem Zirkusgelände betreuen. Per Zufall war genau an dem Abend Saisoneröffnung. Das war schon lustig: Du kommst nach der Geburt aus deinem Tunnel raus, mitten in ein Festgelände mit vielen Menschen und guter Stimmung und kannst dir dort einen Kaffee und etwas zu essen holen. 

Hausgeburten sind entspannt und ruhig, sagst du?

Die Eltern sind dort zu Hause, es ist ihr Alltag und sie fühlen sich wohl. Zudem kennen wir uns in der Regel schon seit Monaten und alles ist sehr vertraut. Klar, die ersten Hausgeburten waren schon herausfordernd. Das ist einfach ein anderes Setting als im Spital. Dort weisst du genau, was wo ist. Bei der Hausgeburt richtest du dich jedes Mal wieder neu ein. 

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Melissa Leu interessierte sich auch für Archäologie, realisierte dann aber, dass sie viel reisen würde. Sie wusste damals schon, dass sie eine Familie möchte. Durch einen Roman wurde der Hebammenberuf wieder zum Thema. (Bild: Rachel Engeli)

Du warst auch im Spital als Hebamme tätig?

In der Frauenklinik in Chur und dann in Zürich, in der Privatklinik Bethanien. Beides war super für die Vorbereitung. Die Frauenklinik befindet sich an einem anderen Ort als das Hauptspital mit der Pädiatrie, daher brauchten die Kinderärzt:innen einen Moment, um bei uns zu sein. Da konnte ich super viel Erfahrung sammeln in der Neugeborenen-Reanimation. In Zürich war es ähnlich. In grossen Häusern ist auf Knopfdruck jemand aus der Pädiatrie da und nimmt dir die Sache ab – was natürlich gut ist. Aber bei den Hausgeburten bin ich froh um die Erfahrung.

Sowohl für Haus- als auch für Spitalgeburten finden sich Befürworter und Gegnerinnen, die ihre Positionen mit unterschiedlichen Argumenten vertreten. Warum machst du Hausgeburten? 

Ich wusste schon vor der Ausbildung, dass ich das will. Meine Mutter hat drei von vier Kindern zu Hause geboren, mit der Winterthurer Hebammen-Legende Blanca Landheer. Sie prägte das Bild, das ich von Hebammen hatte. Es gab noch andere Berufswünsche, ich bin dann aber schnell im Gesundheitsbereich gelandet. Ich mag einfach das Akute.

«Es ist wichtig, dass ich in beiden Welten bestehen kann, der natürlichen und der medizinischen. Wenn mir etwas suspekt ist, fackle ich nicht lange.»

Melissa Leu, Hebamme

Die grosse Frage in der Geburten-Debatte ist ja immer die nach der Sicherheit. Was sagst du dazu?

Die zentrale Frage ist eigentlich: Was heisst Sicherheit für mich? Umfasst sie nur die medizinischen Aspekte, oder spielen das emotionale Erleben, Kultur oder Werte eine zentrale Rolle? Im Spital unterliegt alles dem Diktat der medizinischen Sicherheit. Eigene Wertvorstellungen und Überzeugungen und die emotionale Integrität leiden oft unter dem eher schnellen Intervenieren. Bei Hausgeburten werden die anderen Aspekte bewusst rücksichtsvoll behandelt. So kommt es statistisch gesehen weniger oft zu Dammverletzungen, Vakuum-Geburten mit der Saugglocke und natürlich Kaiserschnitten. Man darf aber nicht vergessen: Die Hausgeburt ist bewusst gewählt. Auch ich und die Gebärenden suchen einander aus. Andere wählen bewusst das Spital. Tragisch ist meiner Meinung nach nicht das eine oder andere, sondern wenn eine Frau keine Wahl hat – sich etwas wünschen würde, aber keine Begleitperson hat, die sie schützt und für sie einsteht.

Wie oft musst du abbrechen und ins Spital umsiedeln?

Sechs Geburten musste ich bisher ins Spital verlegen, die meisten in der Anfangsphase. Es liegt in der Natur der Sache und gehört dazu. In den meisten Fällen ist das Risiko klein, weil ich vorab entscheide, wen ich betreue. Ich bin da recht streng und sage auch Familien ab, die kein Risiko mitbringen, bei denen ich aber spüre, dass ich vielleicht nicht so arbeiten kann, wie ich möchte. Wenn das Vertrauen fehlt oder sie sehr kritisch gegenüber meinen Methoden sind, wird es schwierig. Im Zweifelsfall entscheide ich. Auch wir Hebammen haben verschiedene Einstellungen und unser eigenes Vertrauen in den Prozess und unsere Fähigkeiten. Ich arbeite lieber auf der sicheren Seite. Wenn mir etwas suspekt ist, fackle ich nicht lange. Mir fällt auch in der Vorbereitung kein Zacken aus der Krone, wenn ich eine Mutter zur Sicherheit noch zur Ärztin oder zum Arzt schicke. Es ist wichtig, dass ich in beiden Welten bestehen kann, der natürlichen und der medizinischen. Wenn es Probleme gibt und ich überweisen muss, sollen keine offenen Fragen im Raum stehen und der Übergang möglichst niederschwellig sein. Ich sichere mich damit auch rechtlich ab.

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    «Hausfrau beim Babypflegen» von 1976. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv) (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: / Com_L25-0452-0001-0007 / CC BY-SA 4.0)

Wirst du auch mal nervös?

Wenn ich losgehe. Da weiss ich noch nicht, was für eine Situation ich antreffe – ob sich die Frau schon mitten in der Geburt befindet, wie es ihr geht. Wenn ich da bin, komme ich ins Handeln. Ich habe auch immer eine Kollegin mit dabei. Grundsätzlich gilt, dass ich schon vor der Geburt sicherstelle, dass die Chemie stimmt. Väter sind der Hausgeburt gegenüber oft kritischer eingestellt. Für sie ist die erste Begegnung mit mir mega wichtig. Sie müssen unbedingt mit im Boot sein und die Basics kennen, sonst muss ich einen Teil der Betreuung übernehmen, der eigentlich für jemand anderes gedacht war. Solche Geburten sind sehr anstrengend.

WNTI-Portrait-Maria-Wyler

Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.

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Kommentare

Alexander Kuhn
17. Dezember 2025 um 05:58

Das ist ein schönes Interview. Eine wissenschaftliche Einordnung oder ein zweites Interview mit einer Fachperson aus der Medizin hätte jedoch gut getan. Aussagen wie "So kommt es statistisch gesehen weniger oft zu Dammverletzungen" bleiben so unkommentiert stehen. Das genannte Behauptung wird durch wissenschaftliche Studien nur in Teilen gestützt.