Taubenspuren

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(Bild: zvg)

Eine verletzte Taube sitzt vor dem Haus zum Biber am Obertor. Vielleicht will sie nur kurz ruhen, zu Kräften kommen. Es sieht aus, als hätte eine Katze ihre Schwanzfedern erwischt. Vielleicht war es Lui, der neulich in der Schulgasse schon eine Taube erwischte. Vielleicht ist er auf den Geschmack gekommen.

Ich beobachte sie vom Baugerüst aus, das rund um die ehemalige Stadtpolizei aufgezogen wurde. Jemand ruft den Tierrettungsdienst. Doch zuständig für Tauben ist das Tiefbauamt – genauer gesagt der Entsorgungsdienst.

«Tierärzte kümmern sich nur um domestizierte Tiere», heisst es am Telefon. Es ist auf Lautsprecher gestellt, ich höre mit und frage mich: Wer zieht da die Grenze, und wie weit wird dafür zurückgeblickt? Was heisst domestiziert?

Wir Tauben wurden einst von Hand aufgezogen, im Dienst der Armee haben wir wichtige Botschaften übermittelt. Die Schweizer Armee unterhielt von 1917 bis 1995 den Dienstzweig Brieftaubendienst. Unsere Taubenschläge wurden so bequem wie möglich gestaltet, sodass wir stets wieder zurückfanden. Im Ersten Weltkrieg waren es wir, bis zu 100’000 meiner Art, die Nachrichten überbrachten. Unsere Erfolgsquote: 95 Prozent. Wir waren nützlich.

Bis die Telekommunikation kam und Funksprüche unsere Flügelschläge überholten. Die Militärbrieftauben-Stationen wurden dicht gemacht, die Tauben landeten alle auf der Strasse. Sparmassnahme, hiess es.

Mit unserem Nutzen schwand auch die Zuneigung des Menschen. Wir Stadttauben stammen von der Felsentaube ab. Unsere Felswände sind heute aber Gebäudenischen. Aus Felsentauben wurden Brieftauben, aus Brieftauben wurden Stadttauben. Die Taube ist nicht mehr, was sie einmal war – und wird es auch nie wieder sein. Ein unumkehrbarer Schritt, den der Mensch eingeleitet hat. Was bleibt von der Hand, die uns aufzog? Krümel, die uns zugeworfen werden. Kinder, die uns jagen. Und Eltern, die stumm dabei zusehen.

Unsere verletzte Artgenossin sieht sich um. Die Telefonistin hat längst aufgelegt, hat «ihren Dienst getan». Wieder stürmt ein Kind auf sie zu, findet es lustig, weil sie einfach da sitzt. Unsere Genossin hebt die Flügel. Sie flattert auf – ihr fehlen die Steuerfedern. Sie fliegt los, wacklig, aber in entgegengesetzte Richtung des Entsorgungsdienstes, der das Haus zum Biber ansteuert.

Illustrierte Stadttaube

Ob gurrend auf den Vordächern, im Brunnen vor dem Stadthaus badend oder Bretzel-Brösmeli-pickend am Bahnhof: Die Stadttaube ist überall dort, wo du bist. Und schnappt Schnipsel aus dem Stadtgemurmel auf. Hier teilt unsere Federfreundin ihre Gedanken dazu.

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