«Libellenhaus» plant erste Wohngruppe für Magersüchtige

Der Verein Libellenhaus betreut in Winterthur magersüchtige Personen und deren Angehörige. Und plant eine betreute Wohngruppe zur Selbsthilfe.

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(Bild: unsplash)

«Man will, dass jemand einen packt und aus dem Nebel wieder herauszieht.» So beschreibt Béatrice Wirth das Gefühl, als die Magersucht sie lähmte. Heute steht sie auf der anderen Seite. Nicht mehr im Nebel, sondern mit offenem Blick für andere. Vor rund einem Jahr hat sie den Verein Libellenhaus gegründet. Dort schafft sie einen Ort für Betroffene und Angehörige. Ein Ort, an dem niemand etwas beschönigen muss.

Immer öfter erhält Wirth Anrufe wie: «Ich weiss nicht, ob meine Tochter magersüchtig ist.» Meist sind es Eltern, Geschwister oder Partner:innen, die unsicher sind, ob und wie sie helfen können. Die Angst ist gross, die Überforderung oft ebenso. Einmal im Monat treffen sich Ratsuchende aus Winterthur und Umgebung im Kulturzentrum der Alten Kaserne. Sie kommen in kleinen Gruppen zusammen, um sich auszutauschen, zuzuhören und sich gegenseitig zu stärken. Die Nachfrage hat in der letzten Zeit immer weiter zugenommen. «Die Magersucht zieht in die Familie mit ein und bringt damit die Beziehungen zueinander in Gefahr», so Wirth. Aus eigener Erfahrung weiss sie, wie schwer dieser Weg ist – und dass er möglich ist. Als Peer-Beraterin will sie den Familienangehörigen Halt geben und bietet den Austausch als kostenloses Angebot an. Dabei handelt es sich nicht um eine psychologische oder ernährungstherapeutische Beratung, sondern um einen Austausch, bei dem Betroffene und Angehörige offen über das Krankheitsbild sprechen können, Fragen stellen, zuhören und besser verstehen lernen.

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Beatrice Wirth hat den Verein Libellenhaus in Winterthur gegründet. (Bild: zvg)

Häufig ist die pädiatrische oder hausärztliche Praxis die erste Anlaufstelle für Familien, deren Kinder oder Jugendliche von Essstörungen betroffen sind. Die Beratungsstelle des Libellenhauses soll diesen Schritt erleichtern und die Betroffenen sowie ihre Angehörigen präventiv unterstützen. Wenn ein Klinikaufenthalt jedoch unausweichlich ist, fällt es den Betroffenen oft schwer, wieder in den Alltag zurückzukehren. Deshalb plant der Verein die erste sozialpädagogische Wohngruppe für Jugendliche mit Essstörungen in der Schweiz. Ziel ist es, den Jugendlichen einen klar strukturierten Alltag sowie eine umfassende, ganzheitliche Betreuung zu bieten.

Die Wohngruppe Libellenhaus soll ihnen dabei helfen, Schritt für Schritt zurück in einen stabilen und selbstbestimmten Alltag zu finden. Die finanzielle Zusicherung und Bewilligung für das Projekt sind bereits im Gang. Für die Umsetzung benötigt der Verein rund eine halbe Million Franken und hat daher ein Crowdfunding gestartet. Beatrice Wirth hofft, die Wohngruppe im nächsten Jahr eröffnen zu können. Und sie hat eine grosse Vision: «Ich stelle mir ein ganzes Zentrum für Betroffene und ihre Angehörigen vor. Und dass diese Idee auch ein Vorbild für andere Städte sein kann.»

Essstörungen sind viel weiter verbreitet, als man oft annimmt – und sie treffen Menschen jeden Geschlechts. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie jedoch oft noch immer als «Frauenthema». Doch Studien zeigen ein anderes Bild. So kommt eine neue Untersuchung aus den USA und Kanada zu dem Ergebnis: Mehr als jeder fünfte junge Mann erfüllt die Kriterien für eine Essstörung. Auch Béatrice Wirth beobachtet diese Entwicklung. «Das Schönheitsideal für Männer ist anders verpackt. Deshalb braucht es besonders viel Aufmerksamkeit und vor allem einen Blick für individuelle Unterschiede.» Essstörungen sind keine Modeerscheinung. Es sind ernsthafte Erkrankungen, die Menschen aus allen Altersgruppen, Geschlechtern und Lebenswelten betreffen.

In der Schweiz sind laut Bundesamt für Gesundheit rund 3.5 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens von einer Essstörung betroffen. Damit ist die Häufigkeit in der Schweiz ungefähr so hoch wie in anderen industrialisierten Ländern. Die Gründe dafür sind laut Wirth vielfältig: gesellschaftlicher Druck, familiäre Dynamiken und psychische Belastungen. Auch die sozialen Medien können diesen Druck noch weiter befeuern. Täglich sehen wir Bilder makelloser Körper, oft bearbeitet oder operiert. Vergleiche entstehen fast automatisch – mit fatalen Folgen. Deshalb sei eine Früherkennung laut Wirth besonders wichtig: «Umso früher man die Krankheit erkennt, desto besser kann man sie steuern.» 

Warum ausgerechnet die Libelle das Symbol ihres Vereins ist, muss Wirth nicht lange überlegen: «Für mich steht sie für Leichtigkeit und Beweglichkeit. Und sie schafft es trotz ihrer feinen, filigranen Form, immer wieder abzuheben und in die Lüfte zu steigen.» Auch sie selbst hat diesen Moment erlebt, in dem sie Kraft fand, der Magersucht entgegenzutreten und langsam wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen. Heute möchte sie andere darin bestärken, Schritt für Schritt aus dem Nebel herauszutreten.

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Marit Langschwager verdiente ihre Sporen im Lokaljournalismus bei der «Neuen Westfälischen» ab. Sie wohnt in Winterthur und arbeitete unter anderem bei der NZZ und im SRF-Newsroom. Vom Pressedienst der russischen Botschaft wurde sie schon als «wenig bekannte, junge Journalistin» abgekanzelt – eine unzweifelhafte Ehre, finden wir.

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