Ein Tabuthema, das uns alle betrifft
Im Rahmen unserer Post-it-Aktion klebte am WNTI-Schaufenster ein Thema, dem ich den heutigen Brief widmen möchte. Gemeinsam besuchen wir Herr B. und sprechen mit ihm über Einsamkeit im Alter.
Im Rahmen unserer Post-it-Aktion klebte am WNTI-Schaufenster ein Thema. Ich bin keine Expertin darin, aber früher oder später wird es vielleicht auch mich und dich betreffen. Es geht um Einsamkeit im Alter.
Annika Wagner aus Winterthur hat gerade ihre Diplomarbeit zum Thema geschrieben. Die diplomierte Pflegefachfrau arbeitete acht Jahre bei der Spitex Stadt Winterthur. Gemeinsam besuchen wir Herr B., um mit ihm über Einsamkeit im Alter zu sprechen. «Wundere dich dann nicht, meine Stimmlage ändert sich immer, wenn ich mit Klient:innen spreche», sagt sie lachend zu mir. Der 97-Jährige war fast vierzig Jahre bei der Stadtpolizei, er war für die Ausbildung von Bern nach Winterthur gekommen. «Meine Frau sagte immer, Winterthur sei ein Kaff», so Herr B. Er findet, Winti habe alles, was es brauche. Früher war er Kunstturner und leidenschaftlicher Fussballer gewesen, trainierte die Polizeimannschaft. Ich frage ihn nach seinem Alltag heute. Der sei einfach normal, meint er.
Mit seiner Frau war er jeden Morgen um neun ins Kafi gegangen. Heute gehe er nur noch selten. «Man muss halt das Leben nehmen, wie es sich präsentiert.» Selbständigkeit sei ihm immer wichtig gewesen und er achte darauf, niemandem auf die Nerven zu gehen. Beim Begriff Einsamkeit winkt er ab. Immer wieder betont er, dass er zufrieden sei. Wagner fragt freundlich nach: «Aber gell, es war schon schwer, als die Frau ins Pflegeheim musste? Und der Fernseher hilft schon, sich nicht so allein zu fühlen?» Sie kennt ihn gut, die Beiden wirken sehr vertraut.
«Was ich habe, ist bescheiden. Aber es genügt mir.»
Herr B. (97), ehemaliger Stadtpolizist
In ihrer Diplomarbeit schreibt Wagner: «Pflege bedeutet mehr als medizinische Verrichtungen und Körperpflege. Wir sind auch Begleiter, Zuhörer und vertraute Gesichter.» Oft seien sie sogar der einzige persönliche Kontakt. Einsamkeit sei bei fast allen Klient:innen ein Thema, aber viele sprächen nicht gerne darüber. Diese gehe weit über ein blosses Gefühl hinaus, betreffe Körper und Seele gleichermassen. Sie schreibt, es sei wichtig, zwischen den Begriffen «Einsamkeit» und «soziale Isolation» zu unterscheiden. Letzteres beschreibe den objektiven Zustand, in dem eine Person wenige bis gar keine sozialen Kontakte habe. Dies bedeute nicht zwangsläufig, dass sie darunter leide. Herr B. erzählt mir von seiner Familie, die einen guten Zusammenhalt habe. Sonst suche er nicht gross Kontakt. «Was ich habe, ist bescheiden. Aber es genügt mir.» Anderen gehe es sehr viel schlechter. Als Wagner nochmals nachhakt, gibt er zu: «Ich vermisse meine Frau.» Und er sagt, er wisse nicht, wie es die alten Menschen früher ohne Fernseher gemacht hätten.
Laut einer Umfrage der Pro Senectute Schweiz im 2024 ist jede vierte Person über 55 Jahre einsam. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 26.6 Prozent. Personen über 85 sind mit 36.8 Prozent die einsamste Altersgruppe. Wagner schreibt: «Einsamkeit im höheren Lebensalter ist vielschichtig. Sie ergibt sich nicht aus einem einzelnen Auslöser, sondern aus einem Zusammenspiel sozialer, gesundheitlicher und struktureller Bedingungen.» Der Moment, als er seinen Fahrausweis abgeben musste, war für Herrn B. sehr schwer. «Es war, als müsste ich mit dem Auto meine Freiheit und Unabhängigkeit abgeben, die mir so wichtig waren.»
«Finde mal eine Person, die gerne zugibt, dass sie einsam ist. Dadurch verliert sie in den eigenen Augen auch ein Stück Würde.»
Annika Wagner, diplomierte Pflegefachfrau
Wie Forschungen belegen, sind die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit mit dem täglichen Konsum von 15 Zigaretten vergleichbar. Obwohl die Auswirkungen in der Medizin und Psychotherapie schwerwiegend seien, werde dem Thema Einsamkeit in der Fachwelt häufig zu wenig Beachtung geschenkt, schreibt Wagner in ihrer Arbeit. Es sei ein Tabuthema. «Man will den älteren Menschen ja auch nichts unterstellen und sie nicht überfordern», sagt sie und fügt an: «Finde mal eine Person, die gerne zugibt, dass sie einsam ist. Dadurch verliert sie in den eigenen Augen auch ein Stück Würde.» Es sei für die jetzige ältere Generation besonders schwierig, da sie nicht gelernt habe, unbefangen über Gefühle, Therapien, psychische Probleme und dergleichen zu sprechen.
Herr B. meint, wenn man früh anfange, Kontakte zu vernachlässigen, wirke sich das auf das Alter aus und es werde immer schwieriger, neue zu knüpfen. Sein Rat: «Sei offen und nett mit anderen, dann sind sie es auch mit dir. Wenn jemand Hilfe anbietet, nimm sie an, auch wenn es ohne gehen würde.» Jüngere dürften seiner Meinung nach etwas mutiger sein, falsche Berührungsängste seien unbegründet. «Ich hätte nichts dagegen, unverhofft auf einen Kafi und einen Schwatz eingeladen zu werden.» Auch unseren Besuch hat er sichtlich geschätzt. Zum Schluss legt er Wagner lächelnd die Hand auf die Schulter und sagt: «Ist doch immer schön, wenn sie vorbeikommen, «gälled sie».
Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.