Die Stadt glüht am Stadtglüüt

Süsser die Glocken nie klingen als am ersten Januar auf dem Chileplatz. Um punkt 15 Uhr findet am ersten Tag des neuen Jahres das Stadtglüüt statt – eine ziemlich verrückte Sache.

Die Stadt Winterthur ist stolze Besitzerin von insgesamt 69 Kirchenglocken. Das Stadtglüüt ist nichts Geringeres als ein Konzert, an dem sich alle von ihnen beteiligen – nicht physisch, aber akustisch. Nun steht die 13. Ausgabe an. Wir sprechen hier nicht von wildem Gebimmel, sondern von aufwendigen Kompositionen. Sie tragen Namen wie «Der Klangfasan», «Heavy Schwermetall» oder «Glock-twerk Hellblau» und entstehen im Kopf von Komponist Kilian Deissler. 

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Kilian Deissler tobt sich mit den Glocken aus: Wer sich unter dem Stadtglüüt andächtiges Glockenläuten vorstellt, wird überrascht. Von Heavy Metal über Pop und Klassik bis hin zu Hip Hop war schon alles dabei. (Bild: Stadtglüüt)

Der 36-Jährige bezeichnet sich selbst als «Herzwinterthurer». Er ist im Tösstal aufgewachsen, in Winti zur Schule gegangen und hat in Zürich Komposition studiert. Seit 2015 ist er freischaffender musikalischer Tausendsassa und leitet nebst anderen Projekten den WAAGE-Chor (Winterthurer Acapella Groove Ensemble) und den Tessiner Chor Wülflingen – auch ein Herzensprojekt, ursprünglich ins Leben gerufen von Heimwehtessiner:innen in Winti.

«Ich mache aus den Klängen, die wir eingesammelt haben, die Musik, die ich mag.»

Kilian Deissler, Komponist

Deissler hat zurzeit alle Hirnzellen voll zu tun mit dem Stadtglüüt. Etwa 15 Minuten «Glüüt» kreiert er jedes Jahr neu, ältere Kompositionen ergänzen das Programm. Aber wie um alles in der Welt funktioniert das mit diesen Glocken? Auf allen Türmen wurde jede Glocke aufgenommen – jeweils der Aussenanschlag mit dem Hammer und der Klöppelanschlag von innen. Ersterer schlägt beispielsweise die Viertelstunden. Den zweiten hört man beim Stundenschlag oder als Vollgeläut zu kirchlichen Anlässen. Aus dem Klang jeder einzelnen Glocke wurde digital eine ganze Klaviatur erstellt. Ein Standard-Klavier hat 88 Tasten. Das gibt bei 69 Glocken mehr als 6000 Töne.

«Ich mache aus den Klängen, die wir eingesammelt haben, die Musik, die ich mag», so Deissler. Insgesamt hat er schon etwa 150 Minuten Musik für das Stadtglüüt komponiert. Meist habe er eine Vorstellung im Kopf – einen Beat, eine Melodie – dann mache er Skizzen, schreibe die Noten und suche dann die passenden Klänge dazu. Der Musiker fügt an: «Um das, was ich gerade schreibe, an einem analogen Glockenspiel zu spielen, bräuchte man um die 60 Leute.» Die Glocken der Stadtkirche sind jeweils live. Die am Computer generierte Glockenmusik wird von Lautsprechern auf den beiden Kirchtürmen und rund um den Platz im Surround-Klangverfahren abgespielt.

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Ausschnitt aus dem Stadtglüüt vom ersten Januar 2017 (Bild: Stadtglüüt)

Zu verdanken hat Winti das Stadtglüüt dem Winterthurer Klangmacher Klaus Grimmer. 2014 feierte die Stadt ihren 750. Geburtstag und Grimmer hatte die Idee, das Jubiläumsjahr mit allen Kirchenglocken gemeinsam ein- und ausläuten zu lassen. Er nahm die Glocken auf, schrieb die ersten Kompositionen – bis heute werden jedes Jahr auch welche von ihm gespielt. Nach dieser ersten Ausgabe gründete er mit drei weiteren Nasen den Verein Stadtglüüt. Dieser bekam einen Zuschlag von der Stadt Winterthur, die Gelder aus dem Überschuss der Jubiläumsfeier an Projekte vergab. «Das Geld hat genau bis jetzt gereicht», so Deissler. 

Sie seien dabei, Stiftungen anzufragen und die Kosten zu optimieren. Nur mit Tontechnik und Bewilligungen kämen schon ein paar tausend Franken zusammen. Sein eigener Lohn sei bescheiden, aber das Projekt sei es ihm wert. Es komme auch stets eine gute Kollekte zusammen, so der Komponist. «Das Stadtglüüt ist immer sehr gut besucht. Um die tausend Leute kommen jedes Jahr. Um zehn vor drei ist noch tote Hose und um drei ist es plötzlich pumpenvoll.»

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Das Stadtglüüt findet am ersten Januar um 15 Uhr auf dem Kirchplatz der Stadtkirche Winterthur statt. Der Eintritt ist für alle frei, es gibt eine Kollekte. Alle wichtigen Informationen findest du auch auf der Webseite, zudem viele Hörproben, mit denen du dich schon mal auf das Spektakel einstimmen kannst.
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Jonglieren kann Maria eigentlich nicht. Wir finden aber schon. Denn sie schreibt für WNTI, organisiert den Alltag ihrer drei Söhne und musiziert. Ihre ersten journalistischen Erfahrungen machte sie beim Mamablog des Tages-Anzeigers und als freie Texterin. Heute findet sie ihre Geschichten in all den Menschen, die sie in den 20 Jahren, in denen sie in der Stadt wohnt, kennen und schätzen gelernt hat.

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