Sonntag im Coop am Bahnhof – keiner will hin, aber alle stehen drin
Hinter den Kulissen läuft der Laden am Stadttor schon früh auf Hochtouren. 3000 Gipfeli, enge Gänge, volle Regale und ein Team, das selbst den grössten Sonntagsstress mit Ruhe meistert. Was nach Chaos klingt, ist hier Alltag.
Noch herrscht Stille. Am Sonntagmorgen ist die Coop-Filiale am Stadttor ein anderes Wesen: leiser, verletzlicher, fast intim. Hier im Halbdunkel zwischen Warenpaletten und summenden Kühlschränken fühlt es sich an, als hätte er die Hektik der Woche für einen Augenblick abgeschüttelt. Doch hinten im Lagerraum läuft alles bereits auf voller Drehzahl. Doch hinten im Lagerraum läuft alles bereits auf voller Drehzahl. Rollwagen rütteln über den Betonboden, Kisten mit Obst und Gemüse werden in schneller Folge geöffnet, Folie raschelt, Messer gleiten durch Karton. Die automatische Tür des Lagerraums schlägt regelmässig auf und zu. Jeder Luftstoss schickt eine Duftwolke von frischer Backware durch den Raum. Noch ahnt vor den geschlossenen Türen niemand, wie viel Tempo hier hinten schon seit dem frühen Morgen herrscht. Thomas hebt mit einem geübten Ruck das heisse Blech aus dem Ofen. Seit sechs Uhr steht er an der Backstation, das Licht der warmen Öfen im Gesicht, und arbeitet sich im Takt der Pieptöne durch die Blechstapel. Vor ihm türmen sich die nächsten ungebackenen Gipfeli, sauber aufgereiht, bereit für den Ofen. Bis acht Uhr müssen rund 3’000 Stück fertig sein. Oft seien sie keine fünf Minuten im Regal, sagt Geschäftsführerin Janine Amsler. Sie erwähnt es nüchtern, ohne jede Regung im Gesicht, als gehörten solche Abläufe längst zum täglichen Geschäft. Auch an die 100 Sandwiches müssen bis zur Ladenöffnung um sieben Uhr geschmiert, eingepackt und eingeräumt sein. Alles läuft zwischen den Mitarbeitenden wie ein eingespieltes Uhrwerk: kurze Zurufe, das metallische Klirren von leeren Gestellen, routinierte Handgriffe.
Janine und ihr Team von insgesamt 54 Mitarbeitenden sorgen dafür, dass an 365 Tagen im Jahr das Zmorge im Morgengrauen bereitliegt. In ihrem Sonntags-Schichtbetrieb von 6 bis 22 Uhr sorgt jede Hand dafür, dass der Laden reibungslos weiterläuft. Auf rund 520 Quadratmetern koordinieren die Angestellten den gesamten Ablauf – eine kompakte Fläche, die diese Filiale am Stadttor zu den kleineren Standorten macht. Zwischen den schmalen Gängen manövrieren Mitarbeitende präzise aneinander vorbei, ziehen Rollwagen knapp an Regale heran und weichen in choreografierten Schritten aus, wenn sich Wege kreuzen. «Auf so engem Raum muss einfach alles sitzen», sagt die 32-Jährige. Jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter kenne die Griffe, die Lagerungsorte und Prozesse. Vier Wochen dauere es mindestens, bis jemand alle Abläufe verinnerlicht habe.
«Da wird es nie langweilig. Hier beim Bahnhof ist einfach ein anderes Setup.»
Janine Amsler, Geschäftsführerin Coop-Filiale Stadttor
Im Lagerraum stapeln sich die Kisten mit Äpfeln, Tomaten und anderen Frischwaren zu farbigen, dicht aneinandergereihten Türmen. Besonders die frischen Produkte müssten ständig nachgefüllt werden. Ihr Vorrat wandert im Laufe des Tages in einem stetigen Fluss von hinten nach vorne. Um in diesem Geflecht den Überblick zu behalten, erfasst ein System laufend alle Käufe, die über die Ladenfläche gehen und bestellt fehlende Produkte automatisch nach. Beliefert wird die Filiale über einen Lift, der unter der Woche zweimal täglich Ware hinab bringt. Der Lastwagen fährt neben dem Bahnhof direkt auf die Deckplatte, die sich wie eine schwere Bühne absenkt, bis er im Untergeschoss verschwindet. Da der Platz am Bahnhof stark begrenzt ist, gelten klare Vorgaben: «Die SBB schreibt vor, wie und wann die Läden beliefert werden dürfen», erklärt Janine. Zusätzlich müssen die Abläufe eng mit anderen Geschäften wie der Confiserie Sprüngli abgestimmt werden, damit es zu keinen Überschneidungen kommt. 2015 erhielt der Laden seine letzte Modernisierung: Die Infrastruktur wurde erneuert, Abläufe neu organisiert und Räume so umgestaltet, dass Verkaufs- und Lagerflächen deutlich effizienter genutzt werden können.
Noch herrscht im Verkaufsraum Sonntagsstimmung. Doch die automatische Tür öffnet sich schon im Minutentakt. Erste, noch verschlafen wirkende Gesichter schieben sich um kurz nach sieben zwischen den Regalen durch. Mit langsamen, aber zielgerichteten Bewegungen greifen sie nach Butterzopf und Milch. Hinten bei der Backstation schiebt Thomas bereits das nächste Blech in den Ofen, eine flüssige Bewegung aus Routine und Konzentration. Seit sieben Jahren arbeitet er in dieser Filiale, und selbst die Sonntagsdienste haben für ihn einen eigenen Rhythmus. Die Schichten, so sagt er, sind für ihn oft eine gute Möglichkeit, den Alltag zu strukturieren. An manchen Tagen legt der 29-Jährige bis zu 20’000 Schritte zurück. «Natürlich spürt man die körperliche Anstrengung am Abend, aber ich denke dann auch daran, was ich alles geschafft habe.» Der Winterthurer arbeitet seit 13 Jahren beim Grossverteiler. In der Filiale am Stadttor hält jedoch ein anderer die längste Treue: Der dienstälteste Mitarbeitende arbeitet dort bereits seit 25 Jahren.
Der Sonntag ist für den Umsatz der Filiale besonders wichtig. Wie gross der Anteil genau ist, lässt das Unternehmen auf Anfrage jedoch offen. Aber was landet an diesem Tag tatsächlich in den Einkaufskörben? Natürlich ein Gipfeli für die Wanderung, vielleicht ein Sonntagszopf fürs Zmorge. Doch das ist nur ein Teil des Bildes. «Viele Kunden machen am Wochenende einen grösseren Einkauf und nutzen die Zeit, in der sie nicht arbeiten müssen», sagt Janine. Weil die Nachfrage in den vergangenen Jahren stetig gestiegen ist, hat die Filiale ihre Öffnungszeiten in diesem Jahr bis 22 Uhr ausgeweitet. Jetzt können die Kund:innen selbst am Sonntag noch spät am Abend das Nötigste besorgen.
Und das Angebot nutzen viele: Zwischen den schmalen Regalgängen wird es zunehmend enger. Menschen schieben sich Schulter an Schulter vorbei, manche hastig, andere noch im gemütlichen Sonntagsmodus. Doch die Mitarbeitenden lassen sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Schritte bleiben gleichmässig, als hätten sie einen unsichtbaren Puffer zwischen sich und der Hektik. «Man erlebt jeden Sonntag etwas», berichtet Janine mit einem kurzen Lachen. Besonders lebhaft werde es, erzählt sie, wenn ein FCW-Match oder eine Demonstration anstehe: «Da wird es nie langweilig. Hier beim Bahnhof ist einfach ein anderes Setup.» Dass die Stimmung nicht immer freundlich ist, verschweigt sie nicht. Manchmal seien die Leute gereizt, hin und wieder gebe es heikle Situationen. Für schwierige Fälle steht ein Sicherheitsdienst bereit. «Das kommt aber selten vor», betont sie. Und nach einer kurzen Pause fügt sie an: «Oft sind die Leute einfach dankbar, dass sie hier am Sonntag einkaufen können.»
Ihr Telefon klingelt, ein kurzer, schneidender Ton inmitten des geschäftigen Hintergrundrauschens. Janine greift sofort danach, hebt den Hörer kaum eine Sekunde später ans Ohr. Sie gibt nur eine kurze Antwort und verschwindet eilig hinter den Regalen. Schnell hievt sie mit einer Kollegin einen Karton aus dem Gestell und zieht weiter. Neben der Geschäftsführung ist sie auch «auf der Fläche» präsent, wie sie es nennt, das gehört für sie zum Kern des Jobs. «Ich brauche diesen Druck. Ich könnte nie in einem ruhigen Laden arbeiten», sagt sie mit einem entschlossenen Schmunzeln. Ein junger Mann steht derweil am Eingang und mustert die Clementinen, als wären sie ein kleines Rätsel, das es zu lösen gilt. Auf die Frage, warum er ausgerechnet hier einkauft, hebt er die Augenbrauen, als sei die Antwort selbstverständlich. «Es hat nichts anderes heute offen», sagt er und zuckt beiläufig die Schultern. Colin schaut immer wieder im Stadttor vorbei, wenn er – wie er es nennt – «etwas Kleines braucht». Oft sei es ihm in dieser Filiale am Sonntag viel zu voll, zu laut, zu hektisch. Trotzdem löst sich ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. «Und ich bin trotzdem da», fügt er hinzu und lacht, als würde er sich selbst dabei ein wenig erwischen.
Marit verdiente ihre Sporen im Lokaljournalismus bei der «Neuen Westfälischen» ab. Sie wohnt in Winterthur und arbeitet als Redaktorin im SRF Newsroom und war unter anderem bei der NZZ. Vom Pressedienst der russischen Botschaft wurde sie schon als «wenig bekannte, junge Journalistin» abgekanzelt – eine unzweifelhafte Ehre, finden wir.