Für jedes Dach eine Taube
Stadttaube
Letztens pickte ich in der Kaffeeschleuse, zwischen dem entstehenden Starbucks und dem bestehendem Tchibo. Inmitten des süsslich-schweren Dufts von amerikanischem Versprechen und deutschem Handelsgeist hörte ich: «Hier hat’s ja bald mehr Leute in der Märtgass als im Niederdorf z’Züri.»
Dass Füsse, Räder und Stöcke, denen ich ausweichen muss, sich vermehren, ist mir auch aufgefallen. Doch als die Stimme weiter wetterte, es seien «die Ausländer», die uns überschwemmen, musste ich widersprechen.
Mein Gurren fand kaum Gehör, daher übersetze ich es: Es sind nicht gemachte Feindbilder von fremden Federn, die sich bei uns einnisten. Es sind mehrheitlich junge Stadtmenschen.
Zwischen Limmat und Eulach verläuft ein kaum sichtbarer, nicht versiegender Strom. Es fliesst nach Winterthur und nicht zurück. Wie das Amt für Stadtentwicklung dem Tages-Anzeiger letzten Sommer sagte, wächst Winterthur vor allem um Zürcher:innen. Junge Menschen, frisch gefiedert, auf der Suche nach einem neuen Dach.
Davon gibt es hier viele: klassizistische Giebeldreiecke, Sägezahndächer mit Solarpaneelen, Mansardendächer mit und ohne Schopf, oxidierende Kuppeldächer und rostige Wellbleche auf Gartenhäuschen.
Ich verstehe es. Die Velowege sind breiter, die Kultur ist näher, und die Mieten sind hoch, aber (noch) nicht so hoch wie in Zürich.
Und auch wenn sich die Marktgasse à la Bahnhofstrasse langsam in eine Gliederung aus Filialketten verwandelt, finden sich dazwischen noch einzelne Nester: unabhängige Lädeli, bei denen es sich lohnt, vorbeizuflattern.
Ich würde nur zu gern die nächste Zürcher Stadttaube in Winti fragen: «Was ist besser – das Niederdorf oder die Märtgass?»
Ob gurrend auf den Vordächern, im Brunnen vor dem Stadthaus badend oder Bretzel-Brösmeli-pickend am Bahnhof: Die Stadttaube ist überall dort, wo du bist. Und schnappt Schnipsel aus dem Stadtgemurmel auf. Hier teilt unsere Federfreundin ihre Gedanken dazu.